McEwan Ian
militärische Katastrophe stattfand.
Brionys Gedanken drehten sich weiter um ihr Problem. Vielleicht starb London ja an Giftgasen oder es wurde mit Hilfe von Kollaborateuren durch deutsche Fallschirmjäger überrannt, ehe Lolas Hochzeit stattfinden konnte. Briony hatte einen neunmalklugen Krankenträger in einem Ton sagen hören, der beinahe wie Genugtuung klang, daß die deutsche Armee nun nicht mehr aufzuhalten sei. Die Deutschen kannten die neuen Taktiken, wir nicht, sie hatten die Armee modernisiert, wir nicht. Die Generäle hätten eben besser das Buch des Militärstrategen Liddell Hart lesen oder in den Aufenthaltsraum der Krankenträger kommen und in der Teepause aufmerksam zuhören sollen.
Neben ihr erzählte Fiona von ihrem heißgeliebten kleinen Bruder und den schlauen Dingen, die er beim Abendessen gesagt hatte, und Briony tat, als höre sie zu, und dachte dabei an Robbie. Wenn er in Frankreich gekämpft hatte, war er vielleicht schon gefangengenommen worden. Oder Schlimmeres war passiert. Wie würde Cecilia eine solche Nachricht aufnehmen? Während die Musik, belebt von Dissonanzen, die auf keinem Notenblatt standen, zu einem lärmenden Höhepunkt anschwoll, umklammerte sie die hölzernen Lehnen ihres Klappstuhls und schloß die Augen. Was, wenn Robbie etwas zustieß, wenn Cecilia und Robbie nie zusammenkommen sollten… Ihre geheime Qual und die Wirren des Krieges waren für sie immer zwei getrennte Welten gewesen, doch nun begriff sie, daß der Krieg ihr Verbrechen noch verschlimmern konnte. Die einzig denkbare Lösung wäre die, daß die Vergangenheit nie geschehen wäre. Wenn er nicht zurückkäme… Sie sehnte sich danach, eine andere Vergangenheit zu haben, jemand anderes zu sein, jemand wie die herzensgute Fiona, deren unbeflecktes Leben sich vor ihr ausdehnte, die eine liebevolle, weitverzweigte Familie hatte, deren Hunde und Katzen lateinische Namen trugen und deren Haus ein bekannter Treffpunkt für Chelseas Künstler war. Fiona brauchte nur ihr Leben zu führen, dem Weg zu folgen, der vor ihr lag, und zu erleben, was geschehen würde. Briony dagegen kam es so vor, als ob sie ihr Leben in einem einzigen Zimmer leben mußte, in einem Zimmer ohne Tür.
»Alles in Ordnung, Briony?«
»Wie? Ja, natürlich. Mir geht es gut, danke.«
»Ich glaube dir kein Wort. Soll ich dir ein Glas Wasser holen?« Während der Applaus aufbrandete – niemand schien sich darüber aufzuregen, wie schlecht das Orchester spielte –, sah Briony Fiona über den Rasen eilen, vorbei an den Musikern und dem Mann im braunen Mantel, der die Klappstühle verlieh, bis zu einem kleinen Café unter den Bäumen. Die Heilsarmee spielte jetzt »Bye, Bye Blackbird«, was ihr weit besser gelang. Die Leute auf den Klappstühlen stimmten ein, manche klatschten im Takt. Öffentliches Mitsingen hatte etwas leicht Zwanghaftes – Fremde, die sich gegenseitig Blicke zuwarfen, wenn sie ihre Stimmen hoben –, dem Briony sich entschlossen widersetzen wollte. Trotzdem besserte sich ihre Stimmung, und als Fiona mit einer Tasse Wasser zurückkehrte und das Orchester mit »It’s a Long Way to Tipperary« zu einem Potpourri beliebter Melodien ansetzte, begannen sie, sich von der Arbeit zu erzählen. Fiona steckte Briony mit ihrer Tratscherei an – welche Lernschwestern sie mochten und welche sie unmöglich fanden, was sie von Stationsschwester Drummond hielten, deren Stimme Fiona nachahmen konnte, oder von der Heimschwester, die ebenso imposant und unnahbar wie ein Chefarzt wirkte. Sie erinnerten sich gegenseitig an die Eigenheiten gewisser Patienten und an gemeinsamen Kummer -so war Fiona empört, daß sie nichts auf das Fensterbrett stellen durfte, und Briony haßte es, daß abends um elf Uhr das Licht abgedreht wurde –, doch taten sie dies mit einem gewissen behaglichen Vergnügen und prusteten manchmal regelrecht vor Lachen, so daß man sich nach ihnen umdrehte und mit theatralischer Geste Finger an die Lippen gelegt wurden. Ganz ernst gemeint war das allerdings nicht; die meisten Leute, die sich umdrehten, lächelten nachsichtig aus ihren Klappstühlen zu ihnen herüber. Es war etwas an diesen beiden jungen Pflegerinnen – Krankenschwestern in Kriegszeiten – in ihren weißen und purpurfarbenen Trachten mit den dunkelblauen Mänteln und den fleckenlos sauberen Hauben, das sie so untadelig erscheinen ließ wie Nonnen. Die Mädchen spürten ihre Immunität, weshalb ihr Lachen lauter wurde und immer öfter zu übermütigem, spöttischem
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