McEwan Ian
da zugeht?« Sie stellte sich schmale, hohe Fenster in einer steilen Ziegelmauer vor und dachte, ja, vielleicht, so wie man sich die unterschiedlichen Qualen der Hölle ausmalt. Kraftlos schüttelte sie den Kopf. Um wieder etwas inneren Halt zu gewinnen, versuchte sie, sich auf die Einzelheiten der Verwandlung zu konzentrieren, die mit ihm vorgegangen war. Daß sie glaubte, er wäre größer geworden, lag an seiner Exerzierplatzhaltung. Kein Student aus Cambridge hielt sich derart gerade. Selbst in seiner Wut blieben die Schultern durchgedrückt, und wie bei einem altmodischen Boxer war das Kinn leicht vorgereckt.
»Nein, natürlich nicht. Und? Hast du dich gefreut, als ich gesessen habe?«
»Nein.«
»Aber getan hast du auch nichts.«
Sie hatte oft an dieses Gespräch gedacht, so wie ein Kind sich vorstellt, geschlagen zu werden. Nun fand es endlich statt, und sie fühlte sich, als wäre sie nicht ganz anwesend. Wie aus weiter Ferne beobachtete sie sich und fühlte sich zugleich wie betäubt. Doch sie wußte, später einmal würden seine Worte sie verletzen.
Cecilia hatte sich zurückgehalten, doch jetzt legte sie eine Hand auf Robbies Arm. Er hatte abgenommen, sah aber kräftiger aus und steckte voller hagerem, sehnigem, muskulösem Grimm. Halb drehte er sich zu ihr um.
»Denk dran -«, begann Cecilia, aber er schnitt ihr das Wort ab. »Glaubst du wirklich, ich bin über deine Kusine hergefallen?« »Nein.«
»Hast du das damals geglaubt?«
»Ja. Ja und nein. Ich war mir nicht sicher.« Sie tastete nach den richtigen Worten.
»Und warum bist du dir heute so sicher?«
Sie zögerte, da sie wußte, daß sie mit ihrer A ntwort eine Art Rechtfertigung bot, einen Grund, der ihn noch wütender machen konnte.
»Weil ich erwachsen geworden bin.«
Er starrte sie an, die Lippen leicht geöffnet. In den fünf Jahren hatte er sich wirklich stark verändert. Diese Härte in seinem Blick war neu, und die Augen waren kleiner, schmaler, in den Augenwinkeln deutliche Krähenfüße. Sein Gesicht schien hagerer, als sie es in Erinnerung hatte, die Wangen eingesunken wie die eines Indianers, und über der Oberlippe wuchs ihm nach Soldatenart ein schmaler Schnurrbart. Er war ein überraschend attraktiver Mann geworden. Und plötzlich kam ihr die Erinnerung, wie sie vor Jahren, sie konnte höchstens zehn oder elf gewesen sein, in ihn verliebt gewesen war, eine kindliche Schwärmerei, die kaum einige Tage gedauert hatte. Eines Morgens im Garten hatte sie ihm dann ihre Gefühle gestanden und sie gleich darauf wieder vergessen.
Sie hatte recht daran getan, vorsichtig zu sein. Ihn hatte jene Art Wut gepackt, die vorgibt, bloß Verwunderung zu sein. »Erwachsen geworden«, wiederholte er. Und sie zuckte zusammen, als er brüllte: »Verdammt, du bist achtzehn! Wie lange willst du noch erwachsen werden? Auf dem Schlachtfeld sterben Soldaten, die kaum achtzehn sind. Die Jungen sind alt genug, um auf den Straßen zu verrecken. Hast du das gewußt?« »Ja.«
Es war ein kümmerlicher Trost, daß er nicht wissen konnte, was sie erlebt hatte. Seltsam, daß sie sich trotz aller Schuld gedrängt fühlte, ihm zu widerstehen. Tat sie es jedoch nicht, würde er sie vernichten.
Sie deutete ein Nicken an, traute sich nicht, noch etwas zu sagen, denn als er vom Sterben sprach, packte ihn eine Woge von Gefühl und trieb ihn über alle Wut hinaus in ein Extrem äußerster Verwirrung und schlimmsten Ekels. Sein Atem ging schwer und unregelmäßig, abwechselnd ballte er die rechte Faust und löste sie wieder und starrte Briony unverwandt an, starrte in sie hinein, etwas Wildes, Unnachgiebiges im Blick. Die Augen funkelten, und mehrmals mußte er mühsam schlucken, so daß sich die Muskeln in seinem Hals spannten und zu Knoten anschwollen. Er kämpfte selbst gegen eine Empfindung, die er niemandem zeigen wollte. Das wenige, was sie wußte, die winzigen, kaum greifbaren Fetzen, hatte sie als Pflegerin aufgeschnappt, am Bett und in der Sicherheit der Station. Doch sie wußte genug, um zu ahnen, daß ihn Erinnerungen überwältigten, daß er nichts dagegen tun konnte. Sie würden ihn nicht zu Wort kommen lassen. Und Briony würde niemals erfahren, welche Bilder diese Aufruhr verursachten. Er trat einen Schritt vor, und sie wich zurück, längst nicht mehr sicher, ob er wirklich harmlos war – wenn er nicht reden konnte, würde er vielleicht handeln müssen. Noch einen Schritt, dann würde er sie mit seinen sehnigen Armen erreichen. Doch Cecilia glitt zwischen sie
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