McEwan Ian
beide. Mit dem Rücken zu Briony baute sie sich vor Robbie auf und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er wandte sein Gesicht ab.
»Sieh mich an«, murmelte sie. »Sieh mich an, Robbie.« Briony konnte nicht verstehen, was er ihr antwortete. Sie begriff nur, daß er nicht wollte, daß er sich weigerte. Vielleicht hatte er auch etwas Obszönes gesagt. Als Cecilia fester Zugriff, krümmte sich sein ganzer Körper, wehrte sich gegen sie, und als sie daraufhin die Hände hob und versuchte, seinen Kopf zu sich umzudrehen, wirkten sie wie zwei Ringkämpfer. Das Gesicht nach oben gekehrt, riß er den Mund auf und fletschte die Zähne zur grausigen Parodie eines Lächelns. Mit beiden Händen hielt sie nun seine Wangen, drehte seinen Kopf mit aller Kraft herum, zog ihn zu sich. Endlich schaute er ihr in die Augen, doch sie ließ nicht los, hielt ihn und zog ihn immer näher zu sich heran, zog ihn in ihren Blick, bis ihre Gesichter sich berührten und sie ihn leicht und lang auf die Lippen küßte. Mit einer Zärtlichkeit, die Briony von früher kannte, sagte Cecilia:
»Komm zurück… Robbie, komm zurück.«
Er nickte, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, während sie ihren Griff lockerte und die Hände von seinem Gesicht nahm. In der anschließenden Stille schien das Zimmer noch mehr zu schrumpfen. Er legte die Arme um sie, senkte den Kopf und küßte sie, ein inniger, langer, intimer Kuß. Briony wich leise ans andere Zimmerende und trat ans Fenster. Sie ließ Wasser in ein Glas laufen. Während sie trank, dauerte der Kuß an und einte das Paar in seiner Einsamkeit. Sie fühlte sich wie ausgelöscht, wie aus dem Zimmer getilgt, und sie war froh darüber.
Briony kehrte ihnen den Rücken zu und blickte auf die stumm dastehenden Reihenhäuser im hellen Sonnenlicht und auf den Weg, den sie von der High Street hierher gekommen war. Es überraschte sie, daß sie noch nicht wieder fortwollte, obwohl ihr der lange Kuß peinlich war und sie sich vor dem fürchtete, was sie noch erwartete. Sie beobachtete eine alte Frau auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, die trotz der Hitze einen dikken Mantel trug. Sie führte einen kränklich aussehenden, hängebäuchigen Dackel an der Leine. Cecilia und Robbie unterhielten sich jetzt leise, doch Briony beschloß, sie nicht zu stören und sich erst vom Fenster abzuwenden, wenn sie angesprochen wurde. Sie fand es beruhigend, der Frau zuzusehen, wie sie das Gartentor entriegelte und mit betulicher Sorgfalt wieder hinter sich schloß und wie sie, auf halbem Weg zur Haustür, sich mühsam bückte, um ein Unkraut aus dem schmalen Beet am Wegrand zu zupfen. Sobald sie sich bückte, watschelte der Hund auf sie zu; er leckte ihr über die Hand. Frau und Hund gingen ins Haus, die Straße war wieder leer. Eine Amsel schwang sich auf eine Ligusterhecke herab, fand keinen richtigen Halt und flatterte davon. Der Schatten einer Wolke zog rasch heran, dämpfte das Licht und wanderte weiter. Es hätte ein x-beliebiger Samstagnachmittag sein können. Kaum etwas in dieser Vorstadtstraße deutete auf einen Krieg hin, höchstens die gerade noch zu erkennende Verdunklungsjalousie auf der anderen Straßenseite oder der aufgebockte Ford 8.
Briony hörte, wie ihre Schwester sie beim Namen nannte, und drehte sich um.
»Es bleibt nicht viel Zeit. Robbie muß sich heute abend um sechs Uhr zum Dienst melden und rechtzeitig seinen Zug erwischen. Also setz dich. Es gibt da einige Dinge, die du für uns erledigen wirst.«
Die Stimme der Stationsschwester. Nicht mal besonders herrisch. Cecilia sagte bloß, was unvermeidlich war. Briony setzte sich auf den nächstbesten Platz, Robbie zog sich einen Stuhl heran, Cecilia saß zwischen ihnen. Das Frühstück war vergessen. Die drei leeren Tassen standen mitten auf dem Tisch. Robbie legte den Stapel Bücher auf den Boden, und während Cecilia das Marmeladenglas mit den Glockenblumen beiseite schob, damit es nicht umkippte, warf sie Robbie einen langen Blick zu.
Robbie starrte die Blumen an und räusperte sich. Als er zu sprechen begann, verriet seine Stimme keinerlei Gefühl. Er hätte ebensogut eine Reihe von Befehlen vorlesen
können. Zudem musterte er sie jetzt mit unverwandtem Blick. Er hatte alles unter Kontrolle. Nur auf seiner Stirn, gleich über den Augenbrauen, bildeten sich einige Schweißtropfen.
»Dem Wichtigsten hast du bereits zugestimmt. Sobald du kannst, fährst du zu deinen Eltern und erzählst ihnen alles, was nötig ist, um sie davon zu
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