McEwan Ian
Gegenwart, und sie hörte selbst, wie dünn ihre Stimme plötzlich klang, wenn sie einmal einen vorsichtigen Widerspruch wagte. Eigentlich fand sie es immer unangenehm, nicht einer Meinung mit ihrem Vater zu sein, selbst wenn es sich bloß um eine unbedeutende Haushaltsangelegenheit handelte, und wie sehr die große Literatur auch ihr Empfinden geformt haben mochte, so hatte doch keine Lektion in praktischer Kritik sie gänzlich von ihrem kindlichen Gehorsam befreien können. Auf der Treppe zu rauchen, während Vater im Ministerium in Whitehall festsaß – mehr Revolte ließ ihre Erziehung nicht zu, und selbst dieses bißchen war schwer erkämpft.
Als sie auf den breiten, die Eingangshalle beherrschenden Treppenabsatz trat, führte Leon seinen Freund Paul Marshall durch die weitgeöffnete Tür. Hinter ihnen kam Danny Hardman mit dem Gepäck. Der alte Hardman war draußen gerade noch zu erkennen, wie er stumm auf die Fünf-Pfund-Note in seiner Hand starrte. Das indirekte Nachmittagslicht, vom Kies gebrochen und von der Lunette gefiltert, tauchte die Halle in die gelborangefarbenen Töne eines Sepiadrucks. Die Herren sahen ihr lächelnd entgegen, die Hüte in der Hand. Und wie sie es manchmal tat, wenn sie einen Mann zum ersten Mal traf, fragte sie sich, ob er wohl der Auserwählte war, ob sie sich an diesen Augenblick für den Rest ihres Lebens erinnern würde – mit Dankbarkeit oder mit einem tiefen, bohrenden Bedauern. »Cecilia, Schwesterherz!« rief Leon. Als sie sich umarmten, fühlte sie an ihrem Schlüsselbein einen dicken Füllfederhalter durch den Stoff seiner Jacke und meinte, in den Kleiderfalten Pfeifenrauch zu riechen, was sie für einen Augenblick sehnsüchtig an nachmittägliche Teebesuche auf den Zimmern der Männercolleges denken ließ; zumeist ganz höfliche, harmlose Zusammenkünfte, auf denen es aber, vor allem im Winter, auch recht fröhlich zugegangen war.
Paul Marshall gab ihr die Hand und deutete eine Verbeugung an. Etwas komisch Grüblerisches lag in seinem Gesicht. Die erste Bemerkung aber war konventionell und langweilig: »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Und ich von Ihnen.« Immerhin konnte sie sich an ein Telephongespräch mit ihrem Bruder vor einigen Monaten erinnern, in dessen Verlauf die Frage aufgekommen war, ob sie jemals einen Amo-Riegel gegessen hatten oder je einen essen würden. »Emily hat sich hingelegt.«
Das brauchte kaum gesagt zu werden. Als Kinder hatten sie stets behauptet, an der Verdunklung bestimmter Fenster schon vom anderen Ende des Parks aus erkennen zu können, ob ihre Mutter Migräne hatte oder nicht.
»Und der alte Herr übernachtet in der Stadt?«
»Vielleicht kommt er später noch.« Cecilia wußte, daß Paul Marshall sie anstarrte, doch ehe sie seinen Blick erwidern konnte, mußte sie noch etwas klarstellen. »Die Kinder wollten ein Theaterstück aufführen, aber das wird wohl ein Schlag ins Wasser.«
Marshall sagte: »Dann war es bestimmt Ihre Schwester, die wir unten am See gesehen haben. Sie hat den Brennesseln eine ordentliche Tracht Prügel verpaßt.«
Leon trat einen Schritt zur Seite, um den jungen Hardman mit dem Gepäck vorbeizulassen. »Wo bringen wir Paul unter?« »Im zweiten Stock.« Cecilia hatte den Kopf leicht geneigt und diese Worte zugleich an den jungen Hardman gerichtet, der bis zur Treppe vorgegangen war, jetzt aber stehenblieb und sich umdrehte, einen Lederkoffer in jeder Hand, um zu der Gruppe zurückzuschauen, die dort mitten auf der weiten, gefliesten Schachbrettfläche stand. Sein Gesicht verriet stummes Unverständnis. In letzter Zeit war ihr aufgefallen, daß er sich oft bei den Kindern herumtrieb. Vielleicht interessierte er sich für Lola. Immerhin war er sechzehn und bestimmt kein kleiner Junge mehr. Die Pausbacken, an die sie sich noch so gut erinnerte, waren verschwunden, und der kindliche Schwung seiner Lippen hatte sich in die Länge gezogen, bis er auf unschuldige Weise grausam wirkte. Das Akne-Muster über seinen Brauen schien frisch, doch milderte das Sepialicht den unschönen Anblick. Ihr wurde klar, daß sie sich den ganzen Tag schon merkwürdig gefühlt und Merkwürdiges wahrgenommen hatte, als läge alles bereits lange zurück und würde durch nachträgliche Ironie, die sie nicht ganz verstand, erst recht lebendig.
Geduldig erklärte sie ihm: »Das große Zimmer neben dem Kinderzimmer.«
»Das Zimmer von Tante Venus«, ergänzte Leon. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte man sich Tante Venus in weiten
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