McEwan Ian
nachsehen, ob Jacksons Heimsuchungen nicht endlich vorüber waren. Mit dem Schreiben konnte sie warten, bis sie genügend Zeit dafür hatte.
Vier
E rst spät am Nachmittag erklärte Cecilia die Vase für repariert. Sie war auf einem Tisch vor dem Südfenster der Bibliothek einige Stunden von der Sonne gebacken worden, und bis auf drei dünne Schlangenlinien in der Glasur, die wie Flüsse auf einer Karte zusammenliefen, war nichts mehr zu sehen. Niemand würde je etwas merken. Cecilia wollte, die Vase in beiden Händen, gerade die Bibliothek verlassen, als sie ein Geräusch wie von bloßen Füßen auf den Fliesen vor der Tür hörte. Die ganze Zeit hatte sie jeden Gedanken an Robbie Turner unterdrückt, und sie fand es unverschämt, daß er erneut ohne Socken durch das Haus lief. Sie trat auf den Flur, fest entschlossen, sich dieser Anmaßung oder seinem Spott zu stellen – und stieß statt dessen auf ihre völlig verstörte Schwester. Brionys Augenlider waren geschwollen und rot, und sie knetete ihre Unterlippe mit Zeigefinger und Daumen, eine alte Angewohnheit, die verriet, wie heftig sie geweint haben mußte. »Was ist los, Liebes?« Doch Brionys Augen waren trocken. Sie senkte unmerklich den Blick, musterte die Vase und drängte dann an Cecilia vorbei zur Staffele!, die das Plakat mit dem fröhlichen vielfarbigen Titel und einem an Chagall erinnernden, rund um die Buchstaben angeordneten Mosaik aus pastellfarbenen Glanzlichtern ihres Stückes trug- der Abschied von den weinenden Eltern, der Ritt zur Küste im Mondschein, die Heldin auf dem Krankenbett, eine Hochzeit. Briony blieb davor stehen, riß dann, mit einer einzigen, heftigen, diagonalen Bewegung mehr als die Hälfte von dem Plakat ab und warf das Papier auf den Boden. Cecilia stellte die Vase ab, lief zu ihrer Schwester und kniete nieder, um zu retten, was zu retten war, ehe Briony auf dem Bild herumtrampeln konnte. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie Briony vor einem Akt der Selbstzerstörung bewahrte.
»Sind es die Vettern, Schwesterchen?« Cecilia wollte ihre Schwester trösten, denn sie hatte das Küken der Familie schon immer gern verhätschelt. Als Briony noch klein war und von Alpträumen geplagt wurde – diese gräßlichen Schreie in der Nacht –, war Cecilia immer in ihr Zimmer gerannt und hatte sie geweckt. Komm zurück, hatte sie geflüstert. Es ist nur ein Traum. Komm zurück. Und dann hatte sie Briony mit in ihr eigenes Bett genommen.
Sie wollte ihrer Schwester den Arm um die Schulter legen, aber Briony zupfte nicht mehr an ihrer Lippe; sie stand an der Haustür, eine Hand auf dem großen Messingknauf, einem Löwenkopf, den Mrs. Turner noch am Nachmittag poliert hatte. »Die Vettern sind doof. Aber darum geht’s nicht. Es ist…« Sie verstummte und wußte nicht recht, ob sie ihrer Schwester anvertrauen sollte, was ihr gerade klar geworden war.
Cecilia glättete das abgerissene Papierdreieck und dachte, wie sehr sich ihre Schwester doch veränderte. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Briony geweint hätte und sich auf der seidenen Chaiselongue im Salon von ihr hätte trösten lassen. Nach einem frustrierenden Tag, dessen aufwühlende Gefühle sie nicht genauer analysieren wollte, wäre es eine Erleichterung gewesen, die kleine Schwester zu streicheln und ihr besänftigend zuzureden. Freundliche Worte und Liebkosungen für Briony hätten ihr geholfen, die eigene Fassung wiederzugewinnen. Doch noch in ihrem Kummer legte die jüngere Schwester eine verwirrende Unabhängigkeit an den Tag. Sie hatte Cecilia den Rücken zugewandt und öffnete die Tür.
»Aber was ist denn?« Cecilias Stimme war die eigene Not anzuhören.
Hinter ihrer Schwester, weit hinter dem See, schlängelte sich die Auffahrt durch den Park, wurde schmaler und stieg allmählich bis zu jener Stelle an, an der ein winziger Fleck, formlos in der wabernden Hitze, langsam größer wurde, dann flackerte und wieder in sich zusammenzusinken schien. Das mußte Hardman sein, der sich zu alt fühlte, um das Autofahren noch zu lernen, weshalb er Besucher mit der Kutsche abholte. Briony hatte sich nochmals umgedreht und blickte ihre Schwester herausfordernd an. »Das Ganze ist ein Fehler. Es ist das falsche…« Sie holte tief Luft und schaute an Cecilia vorbei; ein Zeichen dafür, daß gleich ein Lexikonwort seinen ersten Auftritt erleben würde. »Es ist das falsche Genre!« Sie sprach es aus, als hätte es nur eine Silbe, so, wie es ihrer Meinung nach die Franzosen taten, brachte
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