McEwan Ian
aber das ›r‹ nicht recht über die Lippen.
»Jean?« rief Cecilia ihr nach. »Was redest du da?« Doch Briony hüpfte bereits auf ihren zarten weißen Fußsohlen über den glühenden Kies davon.
Cecilia ging in die Küche, um die Vase mit Wasser zu füllen und sie hinauf in ihr Schlafzimmer zu bringen, wo sie die Blumen wieder aus dem Waschbecken fischte. Sie ließ sie in die Vase gleiten, doch weigerten sie sich erneut, das kunstvolle Durcheinander einzunehmen, das sie so gern gesehen hätte, und ordneten sich wie vorsätzlich der Größe nach, die längeren Stengel gleichförmig um den Rand verteilt. Cecilia nahm die Blumen heraus und ließ sie noch einmal in die Vase fallen, und wieder arrangierten sie sich zu einem akkuraten Gesamtbild. Eigentlich war es auch nicht so wichtig. Schließlich dürfte es höchst unwahrscheinlich sein, daß dieser Mr. Marshall sich über die allzu symmetrische Anordnung der Blumen an seinem Bett beschwerte. Sie trug den Strauß über den knarrenden Flur in den zweiten Stock zu jenem Raum, der das Zimmer von Tante Venus genannt wurde, stellte die Vase auf die Nachtkommode neben dem Himmelbett, und damit war der kleine Auftrag, den ihre Mutter ihr am Morgen, vor gut acht Stunden, gegeben hatte, erledigt.
Sie blieb noch, da der Raum angenehm frei von allen persönlichen Dingen war – bis auf Brionys Zimmer schien dies das einzige Schlafgemach zu sein, in dem Ordnung herrschte. Und es war kühl hier, denn die Sonne stand inzwischen auf der anderen Seite des Hauses. Alle Schubladen waren leer, auf den Tischen nicht einmal Fingerabdrücke zu sehen, und unter der Chintzdecke würden sich reine, gestärkte Laken übers Bett spannen. Es reizte sie, eine Hand unter die Decke zu schieben und das Bettzeug zu befühlen, dann aber sah sie sich doch lieber nur in Mr. Marshalls Zimmer um. Den Bezug des Chippendale-Sofas vor dem Himmelbett hatte man so sorgfältig glattgestrichen, daß es einem Sakrileg gleichgekommen wäre, sich darauf zu setzen. Ein milder Geruch nach Wachs hing in der Luft, im honigfarbenen Licht schienen die schimmernden Möbelstücke zu flirren und zu atmen. Als sich ihr Blickwinkel änderte, sah sie die Festgäste auf dem Deckel einer alten Brauttruhe das Tanzbein schwingen. Offenbar hatte Mrs. Turner das Zimmer am Vormittag hergerichtet, doch wischte Cecilia jeden noch so fernen Gedanken an Robbie rasch beiseite. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, schließlich war der künftige Bewohner dieses Zimmers nur noch wenige hundert Schritte vom Haus entfernt.
Vom Fenster aus konnte sie sehen, daß Briony über die Brücke zur Insel eilte, die grasbewachsene Böschung hinabstieg und hinter den Bäumen am Tempel verschwand. In etwas größerer Entfernung ließen sich gerade noch die beiden Gestalten mit Hüten ausmachen, die hinter Hardman in der Kutsche saßen. Jetzt entdeckte sie auch eine dritte, zuvor übersehene Gestalt, die der Kutsche über die Auffahrt entgegenging. Bestimmt war das Robbie Turner auf dem Weg zurück ins Pförtnerhaus. Er blieb stehen, und als die Gäste näher kamen, schienen seine Umrisse mit denen der Besucher zu verschmelzen. Sie konnte sich die Begegnung vorstellen – das männliche Schulterklopfen, die derben Spaße. Es ärgerte sie, daß ihr Bruder nicht wissen konnte, wie sehr Robbie bei ihr in Ungnade gefallen war. Mit einem ungehaltenen Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab, um auf ihr Zimmer zu gehen und sich eine Zigarette zu holen.
Irgendwo mußte sie noch eine Schachtel haben, doch erst nachdem sie mehrere Minuten verärgert ihr Tohuwabohu durchwühlt hatte, fand sie die Zigaretten in der Tasche ihres blauseidenen Morgenmantels auf dem Badezimmerboden. Während sie die Treppe zur Eingangshalle hinunterging, steckte sie sich eine Zigarette an, wohl wissend, daß sie das nicht gewagt hätte, wenn ihr Vater zu Hause gewesen wäre. Er hegte sehr genaue Vorstellungen darüber, wo und wann sich eine rauchende Frau zeigen durfte, jedenfalls nicht auf der Straße oder an irgendeinem anderen öffentlichen Ort, nicht beim Betreten eines Zimmers, nicht im Stehen und überhaupt nur dann, wenn ihr eine angeboten wurde, niemals aber rauchte sie eine Zigarette aus eigenem Vorrat – Regeln, die ihm so selbstverständlich schienen wie ein Naturgesetz. Auch nach drei Jahren Studium am Girton College in Cambridge fehlte ihr der Mut, sich gegen ihn aufzulehnen. Jene unbeschwerte Ironie, die sie gern vor ihren Freundinnen zeigte, verließ sie in seiner
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