McEwan Ian
nie im Beisein der Kinder gefallen, und sie hatten es nie zuvor in den Mund genommen. Der Zischlaut am Anfang verkündete flüsternd die Schande der Familie, das weiche Glucksen am Ende deutete unaussprechliche Obszönitäten an. Jackson selbst blickte ziemlich betreten drein. Das Wort war ihm einfach herausgerutscht, konnte aber durch nichts wieder zurückgeholt werden. Es laut auszusprechen war, wie ihm schien, fast genauso schlimm wie das, was es bedeutete – was immer das auch sein mochte. Genau wußte es nämlich keiner von ihnen, nicht einmal Lola. Drohend trat sie auf ihn zu, die Augen schmal wie die einer Katze. »Wie kannst du es wagen?«
»Stimmt doch«, murmelte er und wandte den Blick ab. Er wußte, daß er Ärger bekam, daß er es verdiente, Ärger zu bekommen, aber bevor er ihr entwischen konnte, packte sie ihn am Ohr und zog sein Gesicht zu sich heran.
»Wenn du mich haust«, sagte er rasch, »erzähl ich’s den Eltern.« Doch er selbst hatte diesen Appell unwirksam gemacht, hatte ihn zum wertlosen Totem einer vergangenen goldenen Zeit erklärt.
»Me wieder sagst du dieses Wort. Hast du mich gehört?« Beschämt nickte er, und sie ließ ihn los.
Vor lauter Schreck hatten die Jungen ihren Kummer verdrängt, und Pierrot, wie stets darauf bedacht, allen Streit möglichst rasch zu beenden, rief fröhlich: »Und was machen wir jetzt?« »Das frage ich mich auch immer.«
Der hochgewachsene Mann im hellen Anzug hatte womöglich schon einige Minuten in der Tür gestanden, lang genug, um zu hören, wie Jackson das Wort aussprach, und mehr noch als seine plötzliche Anwesenheit machte selbst Lola diese Vorstellung sprachlos vor Schreck. Wußte er über ihre Familie Bescheid? Sie starrten ihn abwartend an. Er kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Paul Marshall.«
Pierrot, der ihm am nächsten stand, ergriff stumm die dargebotene Hand, sein Bruder tat es ihm nach. Als die Älteste an der Reihe war, sagte sie: »Lola Quincey. Und das da sind Jackson und Pierrot.«
»Was für prächtige Namen. Aber wie kann man euch denn auseinanderhalten?«
»Die meisten finden mich netter«, sagte Pierrot. Es war ein Familienwitz, eine Antwort, die sich ihr Vater ausgedacht hatte und die einem Fremden gewöhnlich ein Lachen entlockte. Aber dieser Mann verzog keine Miene; er sagte nur: »Ihr müßt die Verwandten aus dem Norden sein.«
Gespannt warteten sie darauf, daß er verriet, was er sonst noch über sie wußte, und beobachteten, wie er die nackten Dielen des Kinderzimmers abschritt und sich bückte, um das Holzklötzchen aufzuheben und in die Luft zu werfen. Holz klatschte auf Haut, als er es geschickt wieder auffing. »Mein Zimmer ist auf diesem Flur.« »Ich weiß«, sagte Lola. »Das Zimmer von Tante Venus.« »Ganz genau. Ihr altes Zimmer.«
Paul Marshall sank in den Sessel, in dem eben noch die kranke Arabella geruht hatte. Sein Gesicht war wirklich seltsam. Er hatte ein breites, fliehendes Kinn und wirkte um die Augen reichlich verkniffen. Grausame Züge, doch ein freundlicher Mann, dachte Lola, eine interessante Kombination. Während Paul Marshall die Bügelfalten zurechtzupfte und von Quincey zu Quincey blickte, fiel Lolas bewundernder Blick auf seine schwarzweißen Lederhalbschuhe, was ihm keineswegs entging. Rhythmisch zuckte ein Fuß zu einer lautlosen Melodie. »Tut mir leid, das mit eurem Theaterstück.« Die Zwillinge rückten zusammen. Eine Ahnung von jenseits der Bewußtseinsschwelle trieb sie, die Reihen zu schließen, als ihnen aufging, daß dieser Mann – wenn er denn mehr als sie selbst über die Proben wußte – sicher auch in eine Menge anderer Dinge eingeweiht war. Jackson stieß gleich zum Kern ihrer Sorgen vor. »Kennen Sie unsre Eltern?« »Mr. und Mrs. Quincey?« »Ja!« »Ich habe in der Zeitung über sie gelesen.« Die Jungen starrten ihn an; die Neuigkeit raubte ihnen die Sprache. Sie wußten, daß die Zeitungen sich mit ungeheuerlichen Dingen befaßten, mit Erdbeben und Zugunglücken, mit dem, was die Regierung und das Volk jeden Tag so trieben, und mit der Frage, ob man für den Fall, daß Hitler England angriff, noch mehr Geld für Waffen ausgeben sollte. Es beeindruckte sie, verwunderte sie aber nicht über die Maßen, daß ihre eigene Katastrophe auf einer Stufe mit diesen weltbewegenden Angelegenheiten rangierte. Das klang, als ob es wahr wäre.
Um die Fassung nicht zu verlieren, stemmte Lola beide Hände in die Hüften. Ihr Herz raste wie von Sinnen, und sie brachte kein Wort
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