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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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höflich seinen Freund an und schien fest entschlossen, nicht zu ihr hinzusehen. Als Kinder hatten sie sich sonntags gegenseitig mit »dem Blick« gequält, wenn ihre Eltern betagte Verwandte zum Essen eingeladen hatten. Das waren pietätvolle Anlässe, für die eigens das alte Silberservice aufgedeckt wurde. Die ehrwürdigen Großonkel, Tanten und Großeltern mütterlicherseits waren Viktorianer, ein verstörtes, ernstes Volk, ein verlorener Stamm, der seit zwei Jahrzehnten verdrießlich in einem frivolen, fremden Jahrhundert herumirrte und in schwarzen Kleidern das Haus betrat. Der zehnjährigen Cecilia und ihrem zwölfjährigen Bruder jagten sie entsetzliche Angst ein, und der nächste Lachkrampf war immer nur einen Atemzug weit entfernt. Wer den Blick auffing, war ihm hilflos ausgeliefert, wer ihn aussandte, war immun. Meist war Leon der Stärkere, da er eine todernste Miene aufsetzen konnte, bei der er die Mundwinkel nach unten zog und gleichzeitig mit den Augen rollte. So bat er Cecilia etwa im unschuldigsten Ton um das Salz, und obwohl sie die Augen niederschlug, wenn sie es ihm reichte, ja, obwohl sie den Kopf abwandte und tief Luft holte, genügte es manchmal, zu wissen, daß er seinen Blick aufgesetzt hatte, um sie neunzig Minuten lang dem unterdrückten Beben eines drohenden Kicheranfalls auszuliefern. Leon war derweil fein raus, da er nur gelegentlich nachsetzen mußte, wenn er glaubte, daß sie sich zu erholen begann. Sie selbst hatte ihn nur selten mit einer Miene hochnäsigen Schmollens aus der Fassung gebracht. Gelegentlich mußten die Kinder auch zwischen den Erwachsenen Platz nehmen, wo es nicht ganz ungefährlich war, den Blick zu proben – wer bei Tisch Fratzen zog, riskierte, gescholten und früh zu Bett geschickt zu werden. Der Trick bestand darin, schnell einen Versuch zu wagen, indem man sich etwa erst die Lippen leckte, um anschließend amüsiert zu lächeln und dabei zugleich das Augenmerk des andern auf sich zu lenken. Einmal hatten sie beide aufgeschaut und sich im selben Moment ihren Blick zugeworfen, woraufhin Leon Suppe aus seiner Nase über das Handgelenk einer Großtante versprühte. Beide Kinder waren für den Rest des Tages auf ihre Zimmer verbannt worden. Cecilia hätte ihren Bruder gern beiseite genommen und ihm gesagt, daß Mr. Marshall Schamhaare aus den Ohren wuchsen. Dieser beschrieb gerade die Begegnung im Sitzungssaal mit jenem Mann, der ihn einen Kriegstreiber genannt hatte. Sie hob den Arm, als wollte sie sich übers Haar streichen, wodurch sie unwillkürlich Leons Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Im selben Moment warf sie ihm den Blick zu, den er seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hatte. Er preßte die Lippen zusammen, wandte den Kopf ab und starrte auf einen Fleck neben seinen Schuhen, wo er etwas sehr Interessantes entdeckt zu haben schien. Als Marshall sich gleich darauf zu Cecilia umwandte, vergrub Leon sein Gesicht hinter vorgehaltener Hand, die bebenden Schultern aber ließen sich vor seiner Schwester nicht verbergen. Er konnte von Glück sagen, daß Marshall gerade zum Schluß kam.
»… da man hier doch gleichsam Atem schöpfen kann.« Abrupt sprang Leon auf. Er ging an den Rand des Beckens und betrachtete nachdenklich ein klatschnasses rotes Handtuch, das jemand neben dem Sprungbrett vergessen hatte. Dann schlenderte er, Hände in den Taschen und sichtlich wieder gefaßt, zu ihnen zurück.
Er sagte zu Cecilia: »Rate mal, wen ich unterwegs getroffen habe.«
»Robbie.«
»Ich habe ihn für heute abend eingeladen.«
»Leon! Wie konntest du?«
Er hatte Lust, sie ein wenig aufzuziehen. Rache vermutlich. Zu seinem Freund sagte er: »Der Sohn der Putzfrau erhält ein Stipendium fürs Gymnasium, ein Stipendium für Cambridge, studiert zur gleichen Zeit wie Cee – und drei Jahre lang spricht sie kaum ein Wort mit ihm! Sie hat ihn nicht mal in die Nähe ihrer Freunde von der Roedean School gelassen.«
»Du hättest mich vorher fragen sollen.«
Sie war tatsächlich verärgert, und Marshall, dem dies auffiel, sagte beschwichtigend: »Ein paar solcher Stipendiaten habe ich in Oxford kennengelernt, und manche waren sogar verdammt clever. Aber sie konnten auch richtig neidisch sein, was doch ein ziemlich starkes Stück war, fand ich.«
Sie fragte: »Haben Sie eine Zigarette für mich?«
Er bot ihr eine aus seinem Silberetui an, warf Leon eine zu und bediente sich dann selbst. Mittlerweile waren sie alle aufgestanden, und als Cecilia sich zu Marshalls Feuerzeug vorbeugte,

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