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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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hervor, obwohl sie wußte, daß sie etwas fragen mußte. Ihr war, als würde ein Spiel gespielt, das sie nicht verstand, doch begriff sie sehr wohl, daß etwas Unschickliches, wenn nicht gar Beleidigendes vorgefallen war. Als sie ansetzte, versagte ihre Stimme, und sie mußte sich räuspern und noch einmal beginnen.
»Was haben Sie über sie gelesen?«
Er zog seine zusammengewachsenen dicken Augenbrauen in die Höhe und gab mit den Lippen ein abschätziges, blubberndes Geräusch von sich. »Ach, ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Dumme Geschichten eben.«
»Dann wäre ich Ihnen überaus verbunden, wenn Sie vor den Kindern kein Wort darüber verlieren würden.«
Es war eine Formulierung, die sie irgendwo aufgeschnappt und nun in blindem Vertrauen von sich gegeben hatte, wie ein Lehrling die Beschwörungsformel eines Zauberers wiederholt. Es schien zu funktionieren. Marshall zuckte zusammen, als ihm aufging, welchen Patzer er begangen hatte, und er beugte sich zu den Zwillingen vor. »Jetzt hört mir beide mal gut zu. Alle Welt weiß doch, daß eure Eltern ganz wunderbare Menschen sind, die euch sehr lieb haben und ständig nur an euch denken.«
Feierlich nickten Jackson und Pierrot, und Marshall wandte sich gleich wieder Lola zu. Nach den zwei starken Gin-Cocktails, die er mit Leon und dessen Schwester im Salon getrunken hatte, war er nach oben gegangen, um sein Zimmer zu suchen, auszupacken und sich zum Abendessen umzukleiden. Doch er hatte die Schuhe noch nicht ausgezogen, da lag er bereits auf dem riesigen Himmelbett und fiel, eingelullt von der ländlichen Stille, den Drinks und der frühabendlichen Schwüle, in einen leichten Schlaf. Er träumte, daß seine jüngeren Schwestern, alle vier, um sein Bett standen, ihn beschwatzten, berührten und an seinen Kleidern zippelten und zerrten. Mit heißer Brust und brennender Kehle wachte er auf, unangenehm erregt und auch ein wenig verwirrt, weil er einen Augenblick lang nicht wußte, wo er sich befand. Als er aber auf dem Bettrand saß und Wasser trank, hörte er die Stimmen, die seinen Traum ausgelöst haben mochten, worauf er über den knarrenden Flur zum Kinderzimmer ging. Anfangs hatte er gemeint, drei Kinder zu sehen, doch jetzt bemerkte er, daß das Mädchen schon beinahe eine Frau war, herrisch und selbstsicher, mit ihren Locken und Armreifen, dem Samthalsband und den lackierten Fingernägeln so ganz die präraphaelitische kleine Prinzessin. Er sagte zu ihr: »Du hast einen wirklich ausgezeichneten Geschmack. Ich finde, die Hose steht dir ganz besonders gut.« Statt verlegen zu sein, fühlte sie sich geschmeichelt und strich mit den Fingern leicht über den Stoff, wo er sich über ihren schmalen Hüften bauschte. »Die haben wir bei Liberty’s gekauft, als ich mit Mutter in London im Theater war.«
»Und was habt ihr euch angesehen?«
»Hamlet.« In Wirklichkeit waren sie im London Palladium in einer Matinee gewesen, Lola hatte Erdbeersaft auf ihr Kleid gekleckert, und das Liberty’s lag nur gleich gegenüber. »Eines meiner Lieblingsstücke«, sagte Paul, der zu ihrem Glück Chemie studiert hatte und das Schauspiel auch nicht kannte. Immerhin konnte er versonnen zitieren: »Sein oder nicht sein…«
»Das ist hier die Frage«, stimmte sie ein. »Und mir gefallen Ihre Schuhe.«
Er drehte den Fuß, um die handwerkliche Verarbeitung besser zur Geltung zu bringen. »Tja, von Ducker’s in The Turi. Die machen so ein Holzding von deinem Fuß und bewahren das für alle Zeiten auf einem Regal auf. Da liegen Tausende unten in einem Kellerraum, dabei sind die meisten Leute längst tot.« »Ist ja schrecklich.«
»Ich hab Hunger«, sagte Pierrot noch einmal.
»Wirklich?« fragte Paul Marshall und klopfte auf seine Hosentasche. »Dann hab ich was für dich, wenn du raten kannst, womit ich mein Geld verdiene.«
»Sie sind Sänger«, sagte Lola. »Zumindest haben Sie eine hübsche Stimme.«
»Nett, aber falsch. Weißt du, du erinnerst mich an meine Lieblingsschwester – «
»Sie haben eine Schokoladenfabrik«, unterbrach ihn Jackson. Bevor sein Bruder allzu großes Lob einheimsen konnte, sagte Pierrot rasch: »Wir haben Sie am Pool reden hören.« »Also nicht geraten.«
Er zog einen rechteckigen, in fettabweisendes Papier gehüllten, etwa zehn Zentimeter langen und knapp drei Zentimeter breiten Schokoriegel aus der Tasche, den er in den Schoß legte, sorgsam auswickelte und dann zur allgemeinen Begutachtung hochhielt. Höflich rückten sie näher. Der Riegel war von

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