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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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einer glatten graugrünen Hülle umgeben, die der Mann mit dem Finger anschnipste. »Zuckerguß, seht ihr? Innen Milchschokolade. Immer gut, selbst wenn er schmilzt.«
Er hob die Hand noch höher und griff fester zu, damit sie sehen konnten, wie sich das Zittern seiner Muskeln auf den Riegel übertrug.
»Einen davon fürs Marschgepäck eines jeden Soldaten in diesem Land. Grundausrüstung.«
Die Zwillinge schauten sich an. Sie wußten, daß ein Erwachsener sich nicht für Süßigkeiten interessierte. Pierrot sagte: »Soldaten essen aber keine Schokolade.«
Und sein Bruder fügte hinzu: »Die wollen lieber Zigaretten.« »Warum sollen die außerdem Süßigkeiten umsonst kriegen und Kinder nicht?«
»Weil sie für unser Land kämpfen.«
»Dad sagt, es gibt keinen Krieg.«
»Na, da täuscht er sich aber.«
Marshall klang etwas gereizt, und Lola sagte beschwich-tigend: »Vielleicht gibt es ja doch Krieg.«
Er lächelte sie an. »Wir nennen ihn Armee-Amo.«
»Amo, amas, amat«, sagte sie.
»Genau.«
Jackson fragte: »Warum muß alles, was man kaufen kann, mit einem O enden?«
»Ist richtig langweilig«, sagte Pierrot. »Genau wie Rolo oder Schoko.«
»Oder Orno und Polo.«
»Ich glaube, die beiden versuchen, mir klarzumachen«, sagte Paul Marshall zu Lola, während er ihr den Riegel gab, »daß sie nichts davon abhaben wollen.«
Sie nahm ihn feierlich und warf den Zwillingen dabei einen triumphierenden Blick zu. Die Jungen wußten, daß sie selbst schuld hatten. Sie würden den Mann jetzt kaum noch fragen können, ob er nicht doch einen Amo für sie übrig hatte. Und so sahen sie zu, wie Lolas Zunge sich grün färbte, während sie über die Zuckergußecken leckte. Paul Marshall lehnte sich unterdessen in seinem Sessel zurück und betrachtete Lola aufmerksam über die Kirchturmspitze hinweg, die er mit den Händen vor seinem Gesicht geformt hatte.
Er schlug die Beine übereinander, streckte sie dann wieder aus und holte tief Luft. »Beiß rein«, sagte er sanft. »Du mußt reinbeißen.«
Es krachte laut, als der Riegel unter ihren makellosen Schneidezähnen nachgab, und gleich darauf konnte man den weißen Rand der Zuckerhülle und die dunkle Schokolade darunter erkennen. Im selben Augenblick hörten sie von unten eine Frau die Treppe hinaufrufen, dann noch einmal, nachdrücklicher und schon aus größerer Nähe. Jetzt erkannten die Zwillinge die Stimme, und entsetzt schauten sie einander an.
Lola lachte mit vollem Mund. »Hört ihr, Betty ruft euch. Zeit für die Badewanne! Ab mit euch. Nun macht schon.«

Sechs
    K aum hatte sich Emily Tallis davon überzeugt, daß Briony und die Kinder ihrer Schwester anständig zu Mittag gegessen hatten und ihr Versprechen halten würden, mindestens zwei Stunden lang nicht in die Nähe des Schwimmbeckens zu gehen, zog sie sich aus der weißen Glut der Nachmittagshitze ins kühle, dunkle Schlafzimmer zurück. Sie spürte keinen Schmerz, noch nicht, fühlte ihn aber nahen. Leuchtende Punkte glühten in ihrem Blickfeld auf, kleine Nadellöcher, als würde der abgewetzte Stoff der sichtbaren Welt vor ein weit helleres Licht gehalten. Im oberen rechten Winkel ihres Hirns fühlte sie eine Schwere, die reglose Trägheit eines zusammengerollten, schlafenden Tieres, doch wenn sie ihren Kopf berührte, wenn sie die Hände gegen die Stirn preßte, verschwand es aus dem Koordinatennetz des realen Raumes. Nun lag es wieder in der oberen rechten Ecke ihres Bewußtseins, und in der Phantasie konnte sie sich auf Zehenspitzen stellen und die rechte Hand danach ausstrecken. Sie durfte das Tier nicht reizen. Rückte diese träge Kreatur erst einmal vom Rand in die Mitte, würde der bohrende Schmerz alle übrigen Gedanken auslöschen, und sie hätte keine Chance mehr, mit Leon und der Familie zu Abend zu essen. Es hatte nichts gegen sie, dieses Tier, ihr Elend war ihm egal. Es bewegte sich, wie sich ein gefangener Panther bewegt: weil es wach war, weil es sich langweilte, aus Bewegungsdrang oder ganz grundlos, einfach so und ohne irgendeine Absicht. Sie lag ohne Kissen auf dem Rücken im Bett, ein Glas Wasser in Reichweite und neben sich ein Buch, das sie nicht würde lesen können. Ein langer, verwischter Streifen Tageslicht, der sich oberhalb der Vorhangleiste über die Zimmerdecke zog, war alles, was die Dunkelheit durchbrach. Aus Angst lag sie wie erstarrt, ein Messer an der Kehle; sie wußte, daß sie vor lauter Furcht nicht schlafen konnte, daß ihre einzige Chance darin bestand, sich nicht zu

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