McEwan Ian
fühlte, dennoch hielt Briony, nachdem sie Jackson gerade noch geduldig belehrt hatte, plötzlich inne, runzelte die Stirn, als ob sie sich korrigieren wollte, und dann war sie verschwunden. Es gab keine künstlerischen Meinungsverschiedenheiten, keinen eindeutigen Wendepunkt, kein Hinausstürmen und Türenschlagen. Sie drehte sich einfach um und schlenderte aus dem Zimmer, als wollte sie zur Toilette gehen. Die anderen warteten und ahnten nicht, daß das Projekt längst gestorben war. Die Zwillinge fanden sogar, sie hätten sich größte Mühe gegeben, vor allem Jackson, der fürchtete, bei der Familie Tallis in Ungnade gefallen zu sein, und das wiedergutmachen wollte, indem er Briony zufriedenstellte.
Während sie warteten, spielten die Jungen mit einem Holzklötzchen Fußball. Ihre Schwester starrte aus dem Fenster und summte leise vor sich hin. Nach einer unermeßlich langen Weile trat sie auf den Flur und ging ans andere Ende zu einer offenen Tür, die in ein Schlafzimmer führte. Von hier aus überblickte sie die Auffahrt und den See, aus dem eine phosphoreszierend schimmernde, in der brüllenden Hitze des späten Nachmittags weißglühende Säule aufzusteigen schien, vor der sie Briony, die hinter dem Inseltempel direkt am Wasser stand, fast nicht erkennen konnte. Das heißt, Briony hätte auch im Wasser stehen können – bei diesem Licht ließ sich das kaum sagen. Jedenfalls machte sie nicht den Eindruck, als ob sie bald zurückkommen würde. Gerade wollte Lola aus dem Zimmer gehen, als ihr neben dem Bett ein irgendwie männlich wirkender Koffer aus braunem Leder mit breiten Riemen und den verblichenen Aufklebern von Dampfschiffen auffiel. Vage erinnerte er sie an ihren Vater, und kaum blieb sie davor stehen, stieg ihr ein schwacher, rußiger Geruch nach Eisenbahnwaggons in die Nase. Sie preßte einen Daumen auf das Schloß und öffnete es. Das polierte Metall war kühl, ihr Griff hinterließ kleine feuchte Flecken. Als das Schloß tatsächlich mit lautem Scheppern aufschnappte, fuhr sie erschrocken zusammen. Rasch drückte sie es zu und eilte nach draußen.
Abermals schien die Zeit für die Geschwister stillzustehen. Schließlich schickte Lola die Zwillinge nach unten und ließ nachsehen, ob das Schwimmbecken frei war – die Anwesenheit von Erwachsenen machte die beiden verlegen. Die Zwillinge kehrten zurück, um zu berichten, daß Cecilia sich mit zwei Männern am Pool aufhalte, doch hatte Lola das Kinderzimmer inzwischen verlassen. Sie war in ihrem winzigen Schlafzimmer und richtete sich vor einem auf dem Fensterbrett aufgestellten Handspiegel die Haare. Die Jungen warfen sich auf das schmale Bett, tobten, kitzelten sich gegenseitig und veranstalteten einen Höllenlärm, doch Lola war zu träge, sie auf ihr eigenes Zimmer zu schicken. Jetzt, da es kein Theaterstück mehr geben würde und sie nicht ins Wasser konnten, litten die beiden unter der endlosen, ereignislosen Zeit. Dann packte sie auch noch das Heimweh, als Pierrot sagte, er sei hungrig – bis zum Essen waren es noch Stunden, aber es schickte sich nicht, jetzt nach unten zu gehen und um etwas zu essen zu bitten. Außerdem trauten sich die Jungen nicht in die Küche, weil sie sich vor Betty fürchteten, die ihnen auf der Treppe begegnet war, als sie mit grimmiger Miene rote Gummilaken in ihr Zimmer hinaufgetragen hatte.
Kurz darauf fanden sich die drei wieder im Kinderzimmer ein, da dies bis auf ihre Schlafzimmer der einzige Raum war, in dem sie sich mit einigem Recht aufhalten zu dürfen glaubten. Das blaue, zerschrammte Klötzchen lag immer noch da, wo sie es hingetreten hatten, und alles schien wie zuvor.
Sie standen lustlos herum, und Jackson sagte: »Mir gefällt’s hier nicht.«
Diese schlichte Feststellung verstörte seinen Bruder, der sich an die Wand stellte und so tat, als bearbeite er mit der Schuhspitze etwas Faszinierendes an der Fußleiste.
Lola legte Pierrot den Arm um die Schulter und sagte: »Ist ja gut. Wir fahren bald wieder nach Hause.« Ihr Arm war viel dünner und leichter als der von Mutter, doch Pierrot unterdrückte sein Schluchzen, da er nicht vergessen hatte, daß sie in einem fremden Haus waren, in dem man großes Gewicht auf gutes Benehmen legte.
Jackson war selbst den Tränen nahe, aber er konnte noch reden: »Gar nicht bald. Das sagst du bloß. Wir können überhaupt nie mehr nach Hause…« Er schwieg, um seinen ganzen Mut zusammenzuraffen. »Es ist eine Scheidung.«
Pierrot und Lola erstarrten. Das Wort war
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