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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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den Antworten der Kleinen geweckt. Bestimmt nicht Leon, der würde sich jetzt, da sie wieder vereint waren, kaum von seiner Schwester trennen, also wohl Mr. Marshall, der unweit vom Kinderzimmer einquartiert war. Er unterhielt sich eher mit den Zwillingen, merkte sie, nicht so sehr mit Lola. Emily fragte sich, ob die Zwillinge wohl unhöflich gewesen waren, ging doch jeder Junge offenbar davon aus, daß sich seine Anstandspflichten durch sein Ebenbild halbierten. Dann kam Betty nach oben und rief die Kinder, vielleicht ein wenig zu streng, wenn man an Jacksons Qualen vom Vormittag dachte. Zeit fürs Bad, für den Tee, fürs Bett – die Scharniere der Tage: Wasser, Nahrung, Schlaf, diese Sakramente der Kindheit waren aus ihrem täglichen Stundenverlauf nahezu ganz verschwunden. Brionys späte, ungeplante Ankunft hatte allerdings auch dann noch für Leben in diesem Haus gesorgt, als Emily schon fast vierzig war, und wie anheimelnd, wie wohltuend das gewesen war: LanolinSeife und weiche, weiße Badetücher, mädchenhaftes Geplapper, das durch das dampfgeschwängerte Badezimmer hallte; die Kleine mit an den Körper gepreßten Armen ins Handtuch wickeln und dann ihre Tochter in jener kindlichen Hilflosigkeit auf dem Schoß halten, die Briony vor kurzem noch so genossen hatte; doch nun blieben ihr Kind und das Badewasser hinter verschlossenen Türen, wenn auch viel zu selten, denn das Mädchen sah stets so aus, als ob es ein Bad und frische Kleider vertragen könnte. Briony hatte sich ganz in eine intakte Innenwelt zurückgezogen, von der das Schreiben nur die sichtbare Oberfläche bildete, die schützende Kruste, die selbst – oder gerade -eine liebende Mutter nicht durchbrechen konnte. Ständig war ihre Tochter in Gedanken mit irgendwas beschäftigt, plagte sich mit einem unausgesprochenen, selbstauferlegten Problem, als könnte die gleichgültig schonungslose Welt von einem Kind neu ersonnen werden. Mittlerweile war es sinnlos, Briony zu fragen, was sie dachte. Dabei hatte es eine Zeit gegeben, da hätte man eine fröhliche, verworrene Antwort erhalten, die selbst wiederum Anlaß zu törichten, gewichtigen Fragen bot, die von Emily stets ausführlich beantwortet worden waren; und obwohl sie sich an die gewundenen Mutmaßungen, zu denen sie sich beide so gern verstiegen hatten, heute kaum noch erinnern konnte, wußte sie, daß sie zu niemandem so überzeugend wie zu ihrem elfjährigen jüngsten Kind gesprochen hatte. An keiner Tafel, keinem schattigen Rand eines Tennisplatzes hatte man sie je so gewandt, so inspiriert reden hören. Jetzt aber ließen die Dämonen namens »Talent« und »Befangenheit« ihre Tochter verstummen, und obwohl Briony noch ebenso zärtlich war – erst beim Frühstück war sie herangerückt, um die Finger in die Hand ihrer Mutter zu schieben –, bedauerte Emily, daß diese redselige Zeit vergangen schien. Nie wieder würde sie so sprechen können, und solche Gründe waren es, weshalb man sich ein weiteres Kind wünschte. Bald würde sie siebenundvierzig sein.
Das gedämpfte Grollen in den Abflußrohren – sie hatte es gar nicht einsetzen hören – endete mit einem Beben, das die Luft erzittern ließ. Jetzt dürften Hermiones Jungen im Bad sein, an jedem Ende der Wanne einer der dünnen, knochigen, kleinen Körper, zwei gleiche, gefaltete, weiße Tücher auf dem verblichenen blauen Rohrstuhl, davor die riesige Korkmatte mit der von einem lang schon toten Hund angekauten Ecke; und statt lebhaften Geplappers ängstliches Schweigen; keine Mutter, nur Betty, zu deren gutem Herz kein Kind jemals vordringen würde. Wie konnte Hermione nur einen Nervenzusammenbruch haben – der Ausdruck, der üblicherweise ihren beim Rundfunk arbeitenden Freund umschrieb –, wie konnte sie Schweigen, Angst und Kummer für ihre Kinder in Kauf nehmen? Eigentlich sollte Emily das Bad der Kinder beaufsichtigen, doch wußte sie, daß sie sich, selbst wenn keine Messer über ihren Sehnerven schwebten, nur aus Pflichtgefühl um ihre Neffen gekümmert hätte. Es waren nicht ihre eigenen Kinder. So einfach war das. Außerdem waren sie kleine Jungen und im Grunde ziemlich verschlossen. Ihnen fehlte jede Neigung zu vertrauten Zärtlichkeiten, schlimmer noch, sie ließen sich nicht mal auseinanderhalten, denn das fehlende Hautdreieck hatte sie bislang nicht ausfindig gemacht. Kein Wunder also, daß man sie einzeln gar nicht recht kennenlernen konnte.
Sacht stützte sie sich auf einen Ellbogen und führte das Glas Wasser an

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