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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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ein schlichtes warmes Herz und ein kühler Verstand: er würde ein Arzt sein, der ein Auge für die abgründigen Wege des Schicksals hatte, für die eitlen und komischen Verleugnungen des Unabwendbaren; er würde den schwachen Puls fühlen, den verlöschenden Atem hören, die fiebrige Hand erkalten spüren, und auf eine Weise, die nur die Religion und die Literatur lehren konnten, über die Armseligkeit und den Adel der Menschheit nachdenken…
Seine Schritte durch den stillen Sommerabend beschleunigten sich im Rhythmus der sich überschlagenden Gedanken. Vor ihm, keine hundert Meter weiter vorn, lag die Brücke, und er meinte zu sehen, wie sich auf dem dunklen Weg ein weißer Schemen abhob, den er im ersten Moment für ein Stück vom fahlen Mauerwerk der Brüstung gehalten hatte. Als er ihn genauer in Augenschein zu nehmen versuchte, verschwammen die Konturen, formten aber schon nach wenigen Schritten die Umrisse einer menschlichen Gestalt, doch ob sie ihm Gesicht oder Rücken zukehrte, ließ sich auf diese Entfernung nicht genau sagen. Sie verharrte reglos, und er nahm an, daß er beobachtet wurde. Ein, zwei Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, einen Geist vor sich zu haben, doch glaubte er nicht ans Übernatürliche, so daß er die Gestalt nicht einmal für jenes äußerst harmlose Wesen halten mochte, das angeblich in der normannischen Dorfkirche spukte. Vor ihm stand ein Kind, soviel erkannte er jetzt, und deshalb mußte es Briony mit ihrem weißen Kleid sein, in dem er sie heute schon gesehen hatte. Schließlich erkannte er sie deutlich, hob eine Hand und rief ihr zu: »Ich bin’s, Robbie«, aber sie rührte sich immer noch nicht. Während er auf sie zuging, fiel ihm ein, daß es möglicherweise besser wäre, wenn der Brief vor ihm im Haus einträfe, da er ihn sonst vielleicht im Beisein anderer Leute übergeben mußte, etwa vor den Augen ihrer Mutter, die sich ihm gegenüber recht distanziert gezeigt hatte, seit er von der Universität zurückgekehrt war. Vielleicht würde er Cecilia den Brief auch überhaupt nicht geben können, weil sie ihn nicht in ihre Nähe ließ. Wenn er aber den Brief Briony gab, hätte Cecilia Zeit, ihn in Ruhe zu lesen und darüber nachzudenken. Und ebendiese Minuten würden sie vielleicht wieder besänftigen.
»Ich habe mich gefragt, ob du mir wohl einen Gefallen tun könntest«, sagte er, als er vor Briony stand.
Sie nickte und wartete.
»Läufst du voraus und gibst Cee diesen Brief?« Während er sie fragte, drückte er ihr den Umschlag schon in die Hand, und sie nahm ihn ohne ein Wort.
»Ich komme in ein paar Minuten nach«, wollte er noch sagen, aber sie hatte sich bereits umgedreht und rannte über die Brücke davon. Er lehnte an der Brüstung, nahm eine Zigarette und sah Briony nach, wie sie davonhüpfte und allmählich in der Dämmerung verschwand. Ein schwieriges Alter für ein Mädchen, sinnierte er nachsichtig. Zwölf, oder war sie schon dreizehn? Ein, zwei Sekunden verlor er sie aus den Augen, dann sah er, wie sie die Insel überquerte, ein heller Fleck vor der dunklen Ansammlung von Bäumen. Schließlich verschwand sie wieder, und erst als sie am anderen Ende der zweiten Brükke wieder auftauchte, die Auffahrt verließ und eine Abkürzung über den Rasen nahm, zuckte er plötzlich zusammen und erstarrte vor Entsetzen und absoluter Gewißheit. Ein unaufhaltsamer, wortloser Schrei brach aus ihm hervor, dann lief er rasch einige Schritte über die Auffahrt, stockte, lief weiter, blieb erneut stehen und begriff, daß jede Verfolgung sinnlos war. Er konnte sie nicht mehr sehen, als er die Hände um den Mund wölbte und Brionys Namen hinausbrüllte. Auch das war sinnlos. Er stand da, bemühte sich verzweifelt, sie ausfindig zu machen – als ob das helfen könnte –, strengte ebenso verzweifelt sein Gedächtnis an und wünschte sich, daß er unrecht habe. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Den handgeschriebenen Brief hatte er auf Gray’s Anatomy gelegt, aufgeschlagen auf Seite 1546, Sektion Splanchnologie: die Vagina, Das getippte Blatt aber, das neben der Schreibmaschine gelegen hatte, war das Blatt, das er genommen und in den Umschlag gesteckt hatte. Da brauchte es keinen Freudschen Scharfsinn, die Erklärung war praktisch und simpel: Der harmlose Brief hatte auf Bild 1236 mit der kühn sprießenden, vorwitzig aufragenden Krone Schamhaar gelegen, die obszöne Version aber in bequemer Reichweite auf dem Tisch. Wieder brüllte er Brionys Namen, obwohl er ahnte, daß

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