McEwan Ian
sie jeden Augenblick am Haus sein würde. Und da war sie auch schon, Sekunden später; ein ferner Rhombus aus ockerfarbenem Licht zeigte ihre Umrisse, die sich weiteten, stockten und dann zu nichts zusammenschrumpften, als Briony das Haus betrat und die Tür sich hinter ihr schloß.
Neun
Z weimal innerhalb nur einer halben Stunde kam Cecilia aus ihrem Schlafzimmer, sah sich im goldgerahmten Spiegel auf dem oberen Treppenabsatz und kehrte unzufrieden zu ihrem Kleiderschrank zurück. Ihr erster Versuch hatte sie in einem schwarzen Kleid aus Naturseide gezeigt, das ihrer Gestalt, zumindest im Spiegel der Frisierkommode, durch geschickten Schnitt einen gewissen Ernst zu verleihen schien. Ihre dunklen Augen verstärkten noch einen Hauch von Unberührbarkeit. Und statt die Wirkung mit einer Perlenkette zu kontrastieren, griff sie in einer spontanen Eingebung nach einer Halskette aus reinem Gagat. Den Schwung der Lippen hatte sie auf Anhieb perfekt getroffen. Diverse Verrenkungen, die ihren Kopf in allen drei Flügeln des Spiegels zeigten, verrieten ihr, daß ihr Gesicht keineswegs zu schmal wirkte, jedenfalls nicht heute abend. Man vertraute darauf, daß sie anstelle ihrer Mutter in der Küche nach dem Rechten sah, und sie wußte, daß Leon sie im Salon erwartete, dennoch fand sie die Zeit, ehe sie aus dem Zimmer ging, noch einmal vor die Frisierkommode zu treten und Parfüm auf ihre Ellbogen zu tupfen, eine verspielte Note, die so ganz ihrer Stimmung entsprach, als sie die Tür hinter sich schloß. Doch als sie auf den Flurspiegel zulief, entdeckte sie in seinem neutralen Widerschein eine Frau auf dem Weg zu einer Beerdigung, noch dazu eine strenge, freudlose Frau, deren schwarzes Panzerkleid Ähnlichkeit mit gewissen in Streichholzschachteln hausenden Insekten aufwies. Ein Hirschkäfer! Das war sie, ihr künftiges Ich, in Witwenkleidern und mit fünfundachtzig Jahren. Cecilia zögerte keinen Augenblick, machte auf dem – ebenfalls schwarzen – Absatz kehrt und eilte zurück auf ihr Zimmer. Sie war skeptisch, weil sie wußte, welche Streiche einem der Verstand spielen kann. Zugleich aber weilte sie im Geiste mit jedem Gedanken beim kommenden Abend; sie mußte sich unbedingt wohl in ihrer Haut fühlen. Das schwarze Seidenkleid sank zu Boden, in Unterwäsche und hochhackigen Schuhen trat sie vor den Schrank, musterte die auf der Kleiderstange dargebotenen Möglichkeiten und dachte daran, wie doch die Zeit verstrich. Sie haßte es, streng auszusehen. Entspannt wollte sie sich geben und zugleich selbstbeherrscht. Vor allem aber wollte sie so aussehen, als hätte sie keinen Augenblick darüber nachgedacht, was sie anziehen würde, und das brauchte seine Zeit. Unten in der Küche zog sich inzwischen der Knoten der Ungeduld immer enger zusammen, während die Minuten verrannen, die sie eigentlich allein mit ihrem Bruder verbringen wollte. Bald würde ihre Mutter auftauchen und die Sitzordnung mit ihr bereden wollen, Paul Marshall würde aus seinem Zimmer auftauchen und Gesellschaft brauchen, und dann würde Robbie vor der Tür stehen. Wie sollte sie da einen klaren Gedanken fassen?
Mit den Fingern strich sie die wenigen Handbreit ihrer persönlichen Geschichte entlang, dieser kurzen Chronik ihres Geschmacks. Da war der schnieke Fummel aus Backfischtagen, der heute so grotesk, schlabberig und geschlechtslos wirkte, und obwohl eines der Kleider Weinflecke und ihre erste Zigarette ein Loch in ein anderes gebrannt hatte, brachte Cecilia es einfach nicht über sich, sie auszusortieren. Dann kam ein Kleid mit der ersten zaghaften Andeutung von Schulterpolstern, und gleich darauf folgten die selbstbewußteren, dynamischeren, reiferen Schwestern, die schon die burschikosen Jahre abgestreift hatten, Taille und Kurven entdeckten, die Hoffnungen der Männer aber souverän ignorierten und wieder länger wurden. Ihr neuestes und bestes Stück, das sie sich zum Examen gekauft hatte, ehe sie von ihrer beschämenden Note erfuhr, war ein die Figur betonendes, dunkelgrünes, diagonal geschnittenes, rückenfreies Abendkleid mit Nackenband. Viel zu elegant, um es daheim zum ersten Mal zu tragen. Also ließ sie die Hand zurückwandern und holte ein Kleid aus Moiré mit plissiertem Oberteil und langettiertem Saum heraus – eine sichere Wahl, da das Rosa matt und dezent genug für den Abend war. Der dreiflügelige Spiegel sah das genauso. Sie zog sich andere Schuhe an, tauschte die Gagatkette gegen die Perlen, frischte ihr Make-up auf, kämmte sich
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