McEwan Ian
und teilweise mit Decken verhüllten Stühlen und einer umgedrehten Matratze. Auf dem Teppich zwischen den Betten zeichnete sich ein großer, feuchter Fleck ab, in dessen Mitte ein Stück Seife und durchweichte Toilettenpapierstreifen lagen. Eine Gardine hing halb abgerissen an der Vorhangleiste, und obwohl die Fenster geöffnet waren, roch die Luft abgestanden, als sei sie schon mehrfach ausgeatmet worden. Sämtliche Schubladen waren geöffnet und ausgeleert. Überhaupt erweckte das Zimmer den Eindruck einer ausweglosen Langeweile, die nur gelegentlich durch spontane Ideen und Wettkämpfe unterbrochen worden war – Höhlen bauen, von einem Bett zum anderen hüpfen oder sich ein Brettspiel ausdenken, um dann vorzeitig die Lust daran zu verlieren. Kein Mensch aus dem Haushalt der Familie Tallis kümmerte sich um die Zwillinge. Ihr schlechtes Gewissen übertönend, verkündete Cecilia mit fröhlicher Stimme: »In dem Chaos kann man ja auch nichts finden.« Und so begann sie aufzuräumen, machte die Betten, streifte die Pumps ab, kletterte auf einen Stuhl, um den Vorhang wieder anzubringen, und teilte den Zwillingen kleine, anspruchslose Aufgaben zu. Sie gehorchten aufs Wort, erledigten ihre Arbeiten aber still und bedrückt, als wären sie eine Strafe und keine Rettung, eine Schande und kein Entgegenkommen. Sie schämten sich für ihr Zimmer. Während Cecilia in ihrem hautengen, grünen Kleid auf dem Stuhl stand und den hellen Rotschöpfen zusah, die im Zimmer auf und nieder wippten, kam ihr der naheliegende Gedanke, wie hoffnungslos und beängstigend es doch für diese beiden Jungen sein mußte, ungeliebt in einem fremden Haus und gleichsam aus dem Nichts heraus ihren Platz finden zu müssen.
Mit einiger Mühe – sie konnte die Knie kaum beugen – stieg sie wieder vom Stuhl, setzte sich auf den Bettrand und klopfte links und rechts auf das Laken. Doch die Jungen blieben vor ihr stehen und sahen sie erwartungsvoll an.
Im verhaltenen Singsangton eines Vorschullehrers, den sie einmal sehr bewundert hatte, sagte sie: »Wir weinen doch nicht etwa über ein Paar verlorene Socken?«
Pierrot erwiderte: »Eigentlich wollen wir wieder nach Hause.« Ernüchtert verfiel sie wieder in den Ton einer Erwachsenen. »Das ist im Augenblick aber nicht möglich. Deine Mutter ist in Paris mit – na ja, sie macht ein bißchen Urlaub, und dein Vater hat an der Universität zu tun, also müßt ihr noch eine Weile bleiben. Tut mir leid, daß sich keiner um euch gekümmert hat. Aber am Schwimmbecken war es doch schön, nicht?«
Jackson sagte: »Wir wollten im Theaterstück mitspielen, aber Briony ist einfach weggelaufen und immer noch nicht wieder da.« »Bist du sicher?« Noch jemand, um den sie sich Sorgen machen mußte. Briony hätte schon längst wieder im Haus sein sollen. Sie dachte an all die Leute, die unten auf sie warteten: ihre Mutter, die Köchin, Leon, der Gast, Robbie. Selbst die Wärme, die hinter ihr durch das offene Fenster ins Zimmer strömte, stellte Anforderungen, denn dies war einer jener Sommerabende, von denen man das ganze Jahr über träumte, und nun war er endlich da, mit all seinen schweren Gerüchen und seinen Freuden im Schlepptau, und sie wurde von fremden Ansprüchen und kleinen Kümmernissen viel zu sehr abgelenkt, um sich darauf einlassen zu können. Aber sie mußte einfach. Unbedingt. Es wäre falsch, es nicht zu tun. Bestimmt würde es himmlisch sein, draußen auf der Terrasse zu sitzen und mit Leon Gin Tonic zu trinken. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß Tante Hermione mit irgendeinem Schwachkopf durchgebrannt war, der wöchentlich im Rundfunk Kamingespräche moderierte. Genug der Traurigkeit. Cecilia stand auf und klatschte in die Hände.
»Tja, das mit dem Theater ist zu schade, aber wir können nichts dagegen tun. Also laßt uns die Socken suchen und nach unten gehen.«
Ihre Nachforschungen ergaben, daß die Socken, in denen die Zwillinge angekommen waren, gewaschen wurden und daß Tante Hermione im Eifer ihrer alles überschattenden Leidenschaft offenbar vergessen hatte, mehr als ein zusätzliches Paar einzupacken. Also ging Cecilia in Brionys Schlafzimmer und suchte sich aus der Lade Socken von möglichst unmädchenhaftem Aussehen – weiß, knöchellang, mit roten und grünen Erdbeeren am oberen Saum. Sie nahm an, daß sich die Jungen weiter um die grauen Socken streiten würden, doch trat das genaue Gegenteil ein, und um weiterem Kummer vorzubeugen, ging sie zurück in Brionys Zimmer, um
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