McEwan Ian
das Haar, tupfte einen Tropfen Parfüm auf den Halsansatz, von dem jetzt mehr als vorher zu sehen war, und trat kaum eine Viertelstunde später wieder auf den Flur. Tagsüber hatte sie den alten Hardman gesehen, wie er mit einem Weidenkorb durchs Haus gegangen war, um Glühbirnen auszuwechseln. Vielleicht war deshalb das Licht auf dem oberen Treppenabsatz greller als sonst, da sie nie zuvor solche Schwierigkeiten mit diesem Spiegel gehabt hatte. Schon aus über zehn Meter Entfernung sah sie, daß er sie nicht vorbeilassen würde; das Rosa wirkte blaß und naiv, die Taille saß zu hoch, und das Kleid bauschte sich über den Hüften wie das Partykostüm einer Achtjährigen. Fehlten bloß die HäschenKnöpfe. Eine Unregelmäßigkeit im alten Spiegelglas verkürzte ihr Bild im Näherkommen, so daß sie plötzlich das Kind vor sich sah, das sie vor fünfzehn Jahren gewesen war. Sie blieb stehen, hob versuchsweise die Hände an den Kopf und faßte ihr Haar zu Zöpfen zusammen. Dieser selbe Spiegel mußte sie Dutzende Male so gesehen haben, wie sie die Treppe hinabstürmte, vermutlich auf dem Weg zur nachmittäglichen Geburtstagsfeier irgendeiner Freundin. In ihrer Verfassung wäre es allerdings nicht gerade hilfreich, wenn sie nach unten ginge und wie Shirley Temple aussähe oder sich doch zumindest so vorkäme.
Eher resigniert als in Eile oder verärgert, kehrte sie abermals in ihr Zimmer zurück. Sie war sich völlig sicher: Diese viel zu lebhaften, unzuverlässigen Eindrücke, ihre Selbstzweifel sowie die Überdeutlichkeit und gespenstische Verzerrung, in der sich ihr das Vertraute zeigte, waren bloß weitere Spielarten dessen, was sie den ganzen Tag über gesehen und gefühlt hatte. Was sie zwar gefühlt, aber worüber sie lieber nicht nachgedacht hatte. Außerdem wußte sie, was zu tun war, und hatte es von Anfang an gewußt. Sie besaß nur ein Kleid, das ihr wirklich gefiel, und das war das Kleid, das sie jetzt anziehen würde. Sie ließ das rosafarbene Kleid auf das schwarze fallen, schritt verächtlich über den Haufen hinweg und griff nach dem Abendkleid, ihrem grünen, rückenfreien Examenskleid. Während sie es anzog, genoß sie noch durch die Seide ihrer Petticoats die straffe Liebkosung des diagonal geschnittenen Stoffes, und sie fühlte sich auf vornehme Weise unerschütterlich, aalglatt und geborgen; sie selbst war die Meerjungfrau, die ihr da aus dem Ganzkörperspiegel entgegensah. Sie behielt die Perlen um, zog sich wieder die schwarzen Pumps an, prüfte noch einmal Haar und Make-up, verzichtete diesmal auf Parfüm und stieß, als sie die Tür öffnete, einen Schrei des Entsetzens aus. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht erblickte sie eine erhobene Faust. Im ersten Schreck glich ihre Wahrnehmung der radikalen Perspektive eines Picassos, in der Tränen, umrandete, geschwollene Augen, feuchte Lippen und eine gerötete, ungeputzte Nase zu einem Bild feuchtrosigen Kummers verlaufen. Sie faßte sich, legte die Hände auf die knochigen Schultern und drehte den ganzen Körper, bis sie das linke Ohr sehen konnte. Es war Jackson, der gerade an ihre Tür klopfen wollte. In der Hand hielt er eine graue Socke. Als sie einen Schritt zurückwich, stellte sie fest, daß er gebügelte, graue Shorts und ein weißes Hemd trug, aber barfuß war.
»Was ist los, kleiner Mann?«
Einen Moment lang traute er seiner eigenen Stimme nicht. Statt dessen hielt er die Socke hoch und deutete damit über den Flur. Cecilia beugte sich vor und sah Pierrot in einiger Entfernung stehen, der, ebenfalls barfuß und ebenfalls mit einer Sokke in der Hand, zu ihnen herüberblickte. »Ihr habt also jeder nur eine Socke, wie?« Der Junge nickte und schluckte, und dann endlich brachte er hervor: »Miss Betty sagt, es setzt was, wenn wir jetzt nicht zum Abendbrot runtergehen, aber wir haben bloß ein Paar Socken.«
»Und deshalb habt ihr euch gestritten?«
Jackson schüttelte entschieden den Kopf.
Als sie mit den Jungen über den Flur in deren Zimmer ging, griff erst der eine nach ihrer Hand, dann der andere, und es überraschte sie, wie sehr sie sich darüber freute. Unwillkürlich dachte sie wieder an ihr Kleid.
»Warum habt ihr eure Schwester nicht gefragt, ob sie euch hilft?«
»Sie redet gerade nicht mit uns.«
»Warum das denn nicht?«
»Weil sie uns haßt. «
Ihr Zimmer war ein heilloses Durcheinander aus schmutzigen Kleidern, nassen Handtüchern, Apfelsinenschalen, rund um ein Blatt Papier angeordneten Comicheftschnipseln, umgekippten
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