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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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selbstverständlicher Bestandteil einer zivilisierten Existenz. Das Ein und Alles aber war es nicht, was immer Dr. Leavis in seinen Vorlesungen auch behaupten mochte. Es war weder die höchste Berufung noch die allerwichtigste Beschäftigung für einen wachen Verstand und l auch nicht die erste oder die letzte Bastion gegen barbarische Horden, ebensowenig wie dies das Studium der Musik, der Historié oder der Wissenschaften sein konnte. Im letzten Studienjahr hatte Robbie sich auch Vorlesungen von einem Psychoanalytiker, einem kommunistischen Gewerkschaftler und einem Arzt angehört, und alle hatten ebenso leidenschaftlich und überzeugend für ihr Fach plädiert, wie Dr. Leavis dies für seines getan hatte. Vermutlich wurden derlei Ansprüche auch für die Medizin erhoben, doch ging es Robbie letztlich um etwas Einfacheres, um etwas Persönlicheres: Seine praktische Veranlagung und der ungenutzte wissenschaftliche Elan würden ein Ventil finden, er würde sich weit subtilere Fähigkeiten aneignen als jene, die er bei der Textinterpretation erworben hatte, und vor allem hätte er endlich seine eigene Entscheidung getroffen. Er würde sich ein Zimmer in einer fremden Stadt nehmen – und anfangen.
Dort, wo der Pfad in die Auffahrt einmündete, trat er schließlich wieder unter den Bäumen hervor. Es dämmerte. Das schwindende Licht ließ den Park größer wirken, und das weiche gelbe Glühen in den Fenstern auf der anderen Seite des Sees machte das Haus beinahe imposant und schön. Sie war dort, vermutlich in ihrem Schlafzimmer, kleidete sich zum Essen um – seinem Blick entzogen, auf der Rückseite des Gebäudes im zweiten Stock. Ein Fenster mit Blick auf den Brunnen. Doch er verdrängte diese lebhaften, taghellen Gedanken, weil er nicht völlig aufgewühlt ankommen wollte. Wie das Ticken einer mächtigen Uhr klackten die harten Sohlen seiner Schuhe über den Schotterweg, und er zwang sich, an die Zeit zu denken, an den großen Vorrat, den Luxus seines unerschöpften Vermögens an Zeit. Nie zuvor hatte er sich so unverschämt jung gefühlt, nie so unersättlich, und noch nie hatte er so ungeduldig darauf gewartet, daß seine Lebensgeschichte endlich anfing. Es gab Männer in Cambridge, die als Lehrer geistig fit waren und noch anständig Tennis spielen konnten, die ruderten und doch schon zwanzig Jahre älter waren als er selbst. Zwanzig Jahre auf ungefähr diesem Niveau körperlichen Wohlbefindens, um seine Geschichte in Gang zu bringen – fast noch einmal so lange, wie er schon gelebt hatte. Zwanzig Jahre würden ihn in die ferne Zukunft des Jahres 1955 versetzen. Welch wichtige Dinge würde er dann wissen, die ihm heute noch verborgen waren? Blieben ihm danach noch einmal dreißig Jahre, die in etwas besinnlicherem Tempo verstreichen würden?
Er malte sich aus, wie er 1962 sein mochte, mit fünfzig, wenn er alt, aber noch nicht so alt sein würde, daß er nutzlos wäre, stellte sich den wettergegerbten, weisen Arzt vor, der er dann sein würde, seine geheimen Geschichten, seine gesammelten Tragödien und Erfolge. Tausende von Büchern würde er bis dahin ebenfalls gesammelt haben, denn er würde ein Arbeitszimmer besitzen, düster und riesengroß, vollgestopft mit den Trophäen eines von Reisen und Nachdenken geprägten Lebens – seltene Regenwaldpflanzen, vergiftete Pfeile, unsinnige elektrische Erfindungen, Specksteinfiguren, Schrumpfköpfe, Eingeborenenkunst. Auf den Regalen medizinische Nachschlagewerke und Erbauungsbücher, gewiß, aber auch jene Bücher, die noch in seiner Kammer unterm Dach lagen – die Lyrik aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ihn fast verführt hätte, Landschaftsgärtner zu werden; die Werke von Jane Austen, dritte Auflage, Eliot und Lawrence und Wilfred Owen, die Gesamtausgabe von Conrad, das unschätzbare Exemplar von Crabbes The Village aus dem Jahre 1783, sein Housman und Audens The Dance of Death mit einem Autogramm des Autors. Denn darauf kam es schließlich an, nicht wahr, daß er ein guter Arzt sein würde, weil er die großen Werke der Literatur studiert hatte. Welch genaue Lesart seine geschärften Sinne dem menschlichen Leid abgewinnen würden, dem selbstzerstörerischen Wahn oder dem schlichten Unglück, das die Menschen in die Krankheit trieb! Geburt und Tod und dazwischen das zarte Leben. Aufstieg und Fall – das war die Sache des Arztes ebenso wie die der Literatur. Er dachte an den Roman des neunzehnten Jahrhunderts. Großes Verständnis und ein weitsichtiger Blick,

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