McEwan Ian
pfiff tonlos vor sich hin und zog den Kopf ein, um sich vor dem Schrankspiegel Pomade ins Haar zu streichen. Er hatte überhaupt kein Ohr für Musik und hätte unmöglich sagen können, ob ein Ton höher oder tiefer als der andere war. Seit er endgültig entschieden hatte, zu dem Dinner zu gehen, war er ziemlich aufgedreht und fühlte sich zugleich seltsam frei. Schlimmer als es war, konnte es nicht mehr werden. Methodisch und mit einem gewissen Vergnügen an seinen knappen Bewegungen erledigte er – als bereite er sich auf eine gefährliche Reise oder eine militärische Heldentat vor – die vertrauten kleinen Verrichtungen, vergewisserte sich, daß er seine Schlüssel hatte, steckte zehn Schilling in die Brieftasche, putzte sich die Zähne, hauchte in die gewölbte Hand, um seinen Atem zu prüfen, nahm den Brief vom Tisch und steckte ihn in einen Umschlag, füllte das Zigarettenetui auf und sah nach, ob das Feuerzeug funktionierte. Dann machte er sich ein letztes Mal vor dem Spiegel Mut, bleckte die Zähne, musterte sich im Profil und schaute über die Schulter noch einmal zurück auf sein Konterfei. Endlich klopfte er auf seine Taschen, sprang, wieder drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, rief seiner Mutter noch einen Gruß zu und trat auf den schmalen, gepflasterten Weg, der zwischen den Blumenbeeten hindurch zu einem Tor im Lattenzaun führte. In den kommenden Jahren sollte er noch oft an den Augenblick zurückdenken, als er sich für eine Abkürzung entschied und den Pfad durch das Eichenwäldchen einschlug, um die eigentliche Auffahrt erst dort wieder zu betreten, wo sie in einem weiten Bogen auf See und Haus zuführte. Ihm blieb Zeit genug, dennoch fiel es ihm schwer, langsam zu gehen. Viele unmittelbare und manch mittelbare Freuden mengten sich in den Reichtum dieser Minuten: die schwindende, rötliche Dämmerung, die warme, reglose, noch von den Gerüchen nach verdorrendem Gras und gebackener Erde durchzogene Luft, seine von der Gartenarbeit angenehm müden Glieder, die vom Bad noch weiche Haut, das frische Hemd und sein einziger Anzug. Selbst die Vorfreude und die Angst, die ihn bei dem Gedanken an Cecilias Anblick überkamen, waren eine Art sinnliches Vergnügen, das von einem allgemeinen Glücksgefühl umhüllt, ja gleichsam umarmt wurde – mag sein, daß es weh tat, vielleicht war es schrecklich peinlich, und sicher führte es zu nichts, doch hatte er für sich selbst herausgefunden, was es bedeutete, verliebt zu sein, und das war aufregend genug. Andere Nebenströme ließen das Glücksgefühl anschwellen: Immer noch erfüllte ihn der Gedanke mit Stolz, den Abschluß mit Auszeichnung bestanden zu haben, sogar, wie es hieß, Jahrgangsbester gewesen zu sein. Und jetzt hatte er auch noch die Zusage, daß Jack Tallis ihn weiterhin unterstützen würde. Vor ihm lag ein neues Abenteuer und kein Exil, da war er sich plötzlich sicher. Es war richtig und in Ordnung, daß er Medizin studierte. Er hätte seinen Optimismus nicht erklären können – er war glücklich, und deshalb würde er auch Erfolg haben.
Ein einziges Wort umfaßte alles, was er fühlte, und das erklärte, warum er später immer wieder an diesen Augenblick zurückdenken sollte: Freiheit. Ein freies Leben und sich frei bewegen. Vor langer Zeit, noch ehe er überhaupt von Gymnasien gehört hatte, war er für eine Aufnahmeprüfung eingetragen worden. Und Cambridge war, sosehr es ihm dort auch gefallen hatte, die Wahl seines ehrgeizigen Direktors gewesen. Selbst seine Fächer waren für ihn von einem charismatischen Lehrer ausgesucht worden. Doch nun hatte er aus eigenem Entschluß sein Leben als Erwachsener begonnen. Es gab da eine Geschichte, in der er selbst den Helden spielte, und schon ihr Anfang hatte unter seinen Freunden für einen kleinen Schock gesorgt. Landschaftsgärtnerei war kaum mehr als der Spleen eines Bohémiens, Resultat eines laschen Bestrebens – so hatte er mit Hilfe von Freud analysiert –, den abwesenden Vater zu ersetzen oder ihn zu überwinden. Ein Lehrerdasein – in fünfzehn Jahren: Mr. R. Turner, Cambridge-Absolvent und Fachbereichsleiter Englisch – kam in dieser Geschichte auch nicht vor, ebensowenig wie eine Dozentenstelle an der Universität. Obwohl er das Literaturstudium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, schien es ihm im nachhinein nur ein fesselndes Gesellschaftsspiel gewesen zu sein. Bücher zu lesen und sich eine eigene Meinung zu bilden erschien ihm nur noch als ein
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