McEwan Ian
noch ein zweites Paar zu holen. Diesmal hielt sie kurz inne, schaute aus dem Fenster in die Dämmerung hinaus und fragte sich, wo ihre Schwester sein mochte. Im See ertrunken, von Zigeunern vergewaltigt, von einem Auto angefahren, dachte sie ganz routiniert, war es doch ein verläßlicher Grundsatz, daß nichts je so geschah, wie man es sich vorstellte, weshalb ihr dies als wirksame Methode galt, das Allerschlimmste schon einmal auszuschließen. Wieder bei den Jungen kämmte Cecilia Jacksons Haar mit einem Kamm, den sie zuvor im Blumenwasser einer Vase angefeuchtet hatte, hielt sein Kinn fest zwischen Daumen und Zeigefinger und zog einen sauberen, schnurgeraden Scheitel. Pierrot wartete geduldig, bis er an die Reihe kam, und dann liefen beide ohne ein Wort davon, um sich Betty zu stellen.
Etwas langsamer folgte ihnen Cecilia und schenkte dem kritischen Spiegel diesmal nur einen flüchtigen Blick, doch war sie zufrieden mit dem, was sie sah. Im übrigen schien ihr das eigene Bild jetzt auch nicht mehr so wichtig, da sich ihre Stimmung geändert hatte, seit sie bei den Zwillingen gewesen war. Ihr Gedankenkreis hatte sich gleichsam vergrößert, hatte einen unbestimmten Entschluß aufkommen lassen, der Gestalt annahm, ohne über einen festen Inhalt zu verfügen oder bestimmte Vorsätze nach sich zu ziehen: Sie wußte nur, daß sie von hier fortmußte. Der Gedanke war angenehm und beruhigend und kein bißchen entmutigend. Auf dem oberen Treppenabsatz hielt sie inne. Unten würde ihre Mutter wegen ihrer langen Abwesenheit von der Familie vor lauter schlechtem Gewissen nichts als Unruhe und Verwirrung stiften. Und diesem Durcheinander mußte sie noch die Neuigkeit hinzufügen, daß, falls es denn stimmte, Briony immer noch nicht wieder zurück war. Zeit würde vergehen, und man würde sich Sorgen machen, bis Briony sich wieder eingefunden hatte. Ein Anruf aus dem Ministerium würde die Familie informieren, daß Mr. Tallis noch arbeiten müsse und deshalb in der Stadt übernachte. Und Leon, der die seltene Gabe besaß, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, würde mitnichten in die Rolle seines Vaters schlüpfen. Im Prinzip würde sie auf Mrs. Tallis übergehen, doch letztlich lag der Erfolg des Abends allein in Cecilias Händen. Soviel stand fest und lohnte keinen Protest – sie würde sich keinem lauschigen Sommerabend anheimgeben können und nicht barfuß unter mitternächtlichem Sternenhimmel über den Rasen wandeln. Sie fühlte unter ihrer Hand das schwarzfleckige, lackierte Kiefernholz des Treppengeländers, irgendwas Neogotisches, eine Nachahmung, doch unverrückbar und solide. Über ihrem Kopf hing an drei Ketten ein großer, gußeiserner Leuchter, der zu ihren Lebzeiten nie angezündet worden war. Man verließ sich lieber auf zwei quastengeschmückte Wandlampen, deren Viertelkugeln aus falschem Pergament das Licht zu suppigem, gelbem Schimmer dämpften, in dessen Widerschein sie lautlos über den Treppenabsatz huschte, um einen Blick ins Zimmer ihrer Mutter zu werfen. Die halb geöffnete Tür und der Lichtbalken, der auf den Flurteppich fiel, bestätigten ihr, daß Emily Tallis sich von ihrer Bettcouch erhoben hatte. Cecilia eilte zurück zur Treppe, verharrte erneut und zögerte, doch blieb ihr keine Wahl. Sie ging nach unten.
An der Rollenverteilung war nichts neu, aber das bekümmerte sie kaum. Vor zwei Jahren hatte sich ihr Vater im Innenministerium vergraben, um geheimnisvolle Gutachten zu erstellen; ihre Mutter hatte schon immer im Schattenland der Gebrechlichen gelebt; Briony war von jeher auf die mütterliche Hilfe ihrer älteren Schwester angewiesen; und Leon hatte noch nie etwas anderes getan, als sich von allem fernzuhalten, und dafür hatte sie ihn stets geliebt. Daß es so einfach sein würde, wieder in die alten Rollen zu schlüpfen, hätte sie allerdings nicht geglaubt. Schließlich war sie durch Cambridge von Grund auf verändert worden, weshalb sie angenommen hatte, gegen einen solchen Rückfall immun zu sein. Doch niemand in der Familie schien ihre Veränderung zu bemerken, und ihr war es nicht gelungen, sich dem Einfluß gewohnter Erwartungen zu entziehen. Sie machte deshalb niemandem Vorwürfe, lungerte vielmehr den ganzen Sommer, getrieben von dem vagen Verlangen, wichtige Familienbande neu zu knüpfen, daheim herum. Nur merkte sie jetzt, daß sich diese Bande nie gelockert hatten: Ihre Eltern waren auf je eigene Weise abwesend, Briony verlor sich in ihrer Phantasiewelt, und Leon lebte in
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