McEwan Ian
weh.«
Paul Marshall räusperte sich. »Ich habe sie selbst gesehen – mußte dazwischengehen und sie auseinanderreißen. Haben mich wirklich überrascht, diese kleinen Bälger. Sind richtig über sie hergefallen…«
Emily war aufgestanden. Sie ging zu Lola und griff nach ihren Händen. »Jetzt seht euch ihre Arme an. Das ist doch kein Spiel mehr. Du hast ja blaue Flecken bis zu den Ellbogen. Wie um alles in der Welt haben die das fertiggebracht?«
»Ich weiß nicht, Tante Emily.«
Wieder rutschte Marshall auf seinem Stuhl nach hinten, um an Cecilias und Robbies Rücken vorbei mit dem jungen Mädchen zu sprechen, das ihn mit Tränen in den Augen anschaute. »Weißt du, es ist keine Schande, sich über so etwas aufzuregen. Du bist ungeheuer tapfer, aber du hast auch einiges durchgemacht.«
Lola gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. Emily zog ihre Nichte an sich und strich ihr über den Kopf.
Marshall sagte zu Robbie: »Du hast recht, es sind nette Jungen, aber ich schätze, sie haben in letzter Zeit ziemlich viel über sich ergehen lassen müssen.«
Robbie hätte gern gewußt, warum Marshall nicht schon früher was gesagt hatte, wenn Lola doch so übel mitgespielt worden war, aber am Tisch herrschte jetzt helle Aufregung. Leon rief zu seiner Mutter hinüber: »Soll ich einen Arzt holen lassen?« Cecilia stand auf. Robbie berührte ihren Arm, sie drehte sich nach ihm um, und zum ersten Mal seit der Bibliothek trafen sich ihre Blicke. Es blieb ihnen allerdings kaum Zeit, sich anzusehen, denn schon eilte Cecilia zu ihrer Mutter, die gerade anordnete, daß ein kalter Wickel vorzubereiten sei. Emily murmelte tröstende Worte auf den Kopf ihrer Nichte hinab. Marshall blieb sitzen und schenkte sich noch einmal nach. Briony erhob sich nun ebenfalls, stieß aber plötzlich einen ihrer durchdringenden Kleinmädchenschreie aus, nahm einen Umschlag von Jacksons Stuhl und hielt ihn hoch. »Ein Brief!«
Sie wollte ihn öffnen. Robbie fragte unwillkürlich: »Für wen?« »Hier steht ›An alle‹.«
Lola löste sich von ihrer Tante und wischte sich mit der Serviette übers Gesicht. Mit überraschender Autorität befahl Emily: »Du wirst ihn nicht aufmachen, sondern tun, was ich dir sage. Bring ihn her.«
Briony bemerkte den ungewöhnlichen Ton in der Stimme ihrer Mutter und trug brav den Brief um den Tisch herum. Als Emily schließlich ein Stück liniertes Papier hervorzog, wich sie einen Schritt von Lola zurück. Während sie vorlas, konnten Robbie und Cecilia mitlesen:
Wir laufn wäk, weil Lola und Beti so schlimm zu uns sinn und weil wir nach Haus wolln. Tut uns leid wegen dem Obst was wir mitgenomm ham. Unn Theater gabs auch nich.
Sie hatten beide einen Zickzackschnörkel unter ihre Vornamen gemalt.
Nachdem Emily den Brief verlesen hatte, fiel kein Wort. Lola stand auf und ging einige Schritte in Richtung Fenster, änderte dann aber ihre Absicht und kehrte ans Tischende zurück. Geistesabwesend schaute sie nach links und nach rechts und murmelte dabei immer wieder: »O verdammt, verdammt…« Marshall trat zu ihr und legte eine Hand auf ihren Arm. »Alles wird wieder gut. Wir bilden Suchmannschaften und finden sie im Handumdrehen.«
»Genau«, sagte Leon. »Sie haben ja höchstens ein paar Minuten Vorsprung.«
Doch Lola hörte nicht hin, für sie war der Fall klar. Auf dem Weg zur Tür sagte sie: »Mummy bringt mich um.«
Leon griff nach ihrer Schulter, aber sie schüttelte ihn ab und war gleich darauf durch die Tür verschwunden. Sie hörten sie durch die Eingangshalle rennen.
Leon wandte sich an seine Schwester. »Wollen wir zusammen suchen gehen, Cee?«
Marshall sagte: »Draußen ist es ziemlich dunkel. Es scheint kein Mond.«
Die ganze Gesellschaft bewegte sich nun auf die Tür zu. Emily sagte: »Jemand sollte hier warten, und das kann ich ebensogut selbst tun.«
»Hinter der Kellertür liegen Fackeln«, sagte Cecilia.
Und Leon riet seiner Mutter: »Ich glaube, du solltest auf dem Revier anrufen.«
Robbie ging als letzter aus dem Speisesaal und war offenbar auch der letzte, so schien ihm, der sich der neuen Lage anpaßte. Seine erste Reaktion, die auch noch vorhielt, als er in die etwas kühlere Halle trat, war das Gefühl, betrogen worden zu sein. Er konnte nicht glauben, daß die Zwillinge in Gefahr schwebten. Die Kühe würden ihnen solche Angst einjagen, daß sie wieder nach Hause liefen. Die tiefe Nacht rund um das Haus, die dunklen Bäume, die lockenden Schatten, das kühle, frisch gemähte Gras – all das war
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