McEwan Ian
kein Licht geben, keine Chance, auf dem Weg zu bleiben, den tief hängenden Ästen auszuweichen oder die Brennesseln zu umgehen, die reichlich auf beiden Seiten wuchsen. Nie würden sie es wagen, sich ernsthaft in Gefahr zu begeben. Sie waren in Sicherheit, Cecilia war bei Leon, und ihr, Briony, stand es frei, im Dunkeln umherzuwandern und über diesen außergewöhnlichen Tag nachzudenken. Sie kehrte dem Schwimmbecken den Rücken und entschied, daß ihre Kindheit in dem Augenblick zu Ende gegangen war, als sie das Plakat zerrissen hatte. Die Zeit der Märchen lag hinter ihr, im Verlauf nur weniger Stunden war sie Augenzeugin geheimnisvoller Vorgänge geworden, hatte ein unaussprechliches Wort gelesen, eine brutale Tat vereitelt und war, indem sie den Haß eines angeblich vertrauenswürdigen Erwachsenen auf sich gezogen hatte, zur Mitspielerin in jenem Drama des Lebens geworden, das außerhalb der Kinderstube stattfand. Jetzt brauchte sie bloß noch die Geschichten zu finden, nicht ihren Inhalt, sondern eine Erzählweise, die dem frisch erworbenen Wissen gerecht wurde. Oder meinte sie ihrem besseren Verständnis von der eigenen Unwissenheit?
Nachdem sie minutenlang aufs Wasser gestarrt hatte, war ihr der See in den Sinn gekommen. Bestimmt versteckten sich die Jungen im Inseltempel. Er war abgelegen, doch nicht zu weit vom Haus entfernt, ein netter, kleiner Schlupfwinkel, der einen tröstlichen Ausblick aufs Wasser bot und nicht allzu tief im Schatten lag. Sicher waren die anderen geradewegs über die Brücke gegangen, ohne dort unten nachzusehen. Sie beschloß, in einem weiten Bogen ums Haus herum zum See zu laufen. Zwei Minuten später kreuzte sie den Kiesweg, der zwischen Rosenhecken zum Triton-Brunnen führte, dem Schauplatz jener geheimnisvollen Begebenheit, die zweifellos die späteren Grausamkeiten bereits angekündigt hatte. Im Vorübergehen meinte sie, von weit her ein schwaches Rufen vernehmen zu können, und glaubte, aus den Augenwinkeln ein Licht aufblitzen und wieder erlöschen zu sehen. Sie blieb stehen und spitzte die Ohren, um trotz des plätschernden Wassers etwas zu hören. Ruf und Licht waren aus dem einige hundert Meter entfernten Wald am Fluß gekommen. Also ging sie ein kurzes Stück in diese Richtung, blieb dann erneut stehen und horchte. Doch da war nichts, nur der Wald, eine dunkle, wogende Masse, die im Westen gerade noch vor dem graublauen Himmel auszumachen war. Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, beschloß sie, wieder umzudrehen und zum Haus und zur Terrasse zurückzukehren, auf der zwischen Gläsern, Flaschen und einem Eiskübel eine kugelförmige Paraffinlampe brannte. Die Salontür stand immer noch weit offen und ließ die Nacht herein, so daß Briony direkt ins Innere sehen konnte. Im Licht einer einzigen Lampe sah sie, teilweise von einem Samtvorhang verdeckt, ein Sofaende, über dem in einem seltsamen Winkel ein zylindrischer Gegenstand gleichsam zu schweben schien. Erst nachdem sie weitere zwanzig Meter näher herangegangen war, begriff sie, daß sie auf ein menschliches, körperloses Bein starrte. Und sie mußte noch näher heran, um ihren Blickwinkel zu verstehen: Es war natürlich ihre Mutter, die da auf die Zwillinge wartete. Sie wurde größtenteils von den Gardinen verdeckt, und das bestrumpfte Bein ruhte auf dem Knie des anderen, wodurch es diesen merkwürdigen, schiefen, frei schwebenden Eindruck machte.
Um nicht in Emilys Sichtfeld zu geraten, schlich sich Briony dicht ans Haus, an ein Fenster auf der linken Seite. Sie stand zu weit hinter ihrer Mutter, um die Augen zu erkennen, konnte nur eine flache Mulde in ihrem Gesicht sehen, jene Stelle, an der der Wangenknochen in die Augenhöhle überging. Briony zweifelte nicht daran, daß Emilys Lider geschlossen waren. Den Kopf hatte sie nach hinten gelehnt, die Hände locker gefaltet in den Schoß gelegt. Mit jedem Atemzug hob und senkte sich die rechte Schulter ein wenig. Ihre Lippen blieben unsichtbar, doch kannte Briony die herabgezogenen Mundwinkel, die so leicht für ein Zeichen – eine Hieroglyphe – des Vorwurfs gehalten wurden. Dabei war ihre Mutter grenzenlos gütig, lieb und freundlich. Sie dort mitten in der Nacht so allein sitzen zu sehen war traurig, aber zugleich auch irgendwie erhebend. Briony genoß diesen Blick durchs Fenster mit einem Gefühl des Abschieds. Ihre Mutter war sechsundvierzig, hoffnungslos alt. Eines Tages würde sie sterben. Und wenn es im Dorf dann zum Begräbnis kam, sollte man allein an
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