McEwan Ian
Brionys würdevollem Schweigen die ganze Tiefe ihres Kummers erahnen. Freunde, die murmelnd ihr Beileid aussprachen, würden vom Ausmaß der Tragödie überwältigt sein. Briony sah sich einsam in einer großen, von einem hoch aufragenden Kolosseum umschlossenen Arena stehen, den Blicken nicht bloß jener Menschen ausgesetzt, die sie kannte, sondern aller Menschen, die sie je kennenlernen sollte, dem gesamten Ensemble ihres Lebens, das hier zusammengekommen war, um sie in ihrem Leid zu lieben. Auf dem Friedhof dann, in jenem Winkel, den sie die Großelternecke nannten, würde sie, Arm in Arm mit Leon und Cecilia, endlos lange im hohen Gras vor dem neuen Grabstein verweilen – wiederum vor aller Augen. Es mußte Zeugen geben. Und es war das Mitleid dieser Menge, das schon jetzt ihre Tränen fließen ließ.
Sie hätte zu ihrer Mutter gehen, sich an sie kuscheln und ihr von den Geschehnissen des Tages erzählen können. Dann hätte sie kein Verbrechen begangen. So vieles wäre nicht geschehen, alles hätte abgewendet werden können, und die glättende Hand der Zeit hätte dafür gesorgt, daß sich bald niemand mehr an diesen Abend erinnern würde: die Nacht, in der die Zwillinge fortrannten. War das 1934,
1935 oder 1936 gewesen? Doch ohne ersichtlichen Grund -falls man nicht die unbestimmte Aufforderung, nach den Jungen zu suchen, und ihre Begeisterung darüber, so spät noch draußen sein zu dürfen, dafür halten wollte – kehrte sie dem Haus den Rücken und streifte dabei mit der Schulter den Flügel der Terrassentür, der gleich darauf ins Schloß fiel. Wie ein scharfer Tadel klang der helle Schlag von knochentrockener Kiefer auf Hartholz. Wenn sie blieb, würde sie sich erklären müssen, also glitt sie zurück in die Dunkelheit und huschte auf Zehenspitzen über die Fliesen und die in den Ritzen wachsenden, wohlriechenden Krauter davon. Dann war sie auf dem Rasen bei den Rosenrabatten, auf dem sie lautlos weiterlaufen konnte. Sie bog um die Hausvorderseite und betrat den Kiesweg, über den sie am Nachmittag barfuß gehüpft war.
Kurz vor der Brücke wurde sie langsamer. Sie war wieder an ihrem Ausgangspunkt und meinte, die anderen sehen oder doch ihre Rufe hören zu müssen. Aber sie war allein. Die düsteren Konturen einzelner Bäume im Park ließen sie zögern. Jemand haßte sie, das durfte sie nicht vergessen, und er war gewalttätig, unberechenbar. Leon, Cecilia und Mr. Marshall waren längst weit fort. Die Bäume in ihrer Nähe, zumindest die Stämme, hatten menschliche Formen. Oder verbarg sich jemand dahinter? Selbst wenn jemand davor stehen würde, wäre er für sie unsichtbar. Zum ersten Mal nahm sie nun bewußt den Wind wahr, der durch die Wipfel blies, und dieses vertraute Geräusch machte sie nervös. Millionen einzelner, präziser Bewegungen bombardierten ihre Sinne. Als die Brise für einen Moment kräftiger wurde und dann abflaute, entfernte sich das Geräusch, wanderte wie ein lebendes Wesen durch den dunklen Park davon. Sie blieb stehen und fragte sich, ob sie sich wirklich bis zur Brücke vorwagen, sie überqueren, den Weg verlassen und die steile Böschung zum Inseltempel hinunterklettern sollte. Eigentlich war es ja nicht weiter wichtig – bloß so eine Ahnung, daß die Jungen dorthinunter gegangen sein könnten. Außerdem hatte sie im Gegensatz zu den Erwachsenen keine Fackel dabei. Von ihr wurde nichts erwartet; in den Augen der anderen war sie noch ein Kind. Die Zwillinge waren bestimmt nicht in Gefahr.
Sie verharrte kurz auf dem Kiesweg, zur Umkehr nicht verängstigt genug und nicht mutig genug, um weiterzugehen. Vielleicht sollte sie lieber ihrer Mutter beim Warten im Salon Gesellschaft leisten. Oder sie wählte eine gefahrlosere Route, blieb auf dem Hauptweg, kehrte um, ehe sie den Wald erreichte, und tat trotzdem so, als hätte sie ernsthaft gesucht. Dann aber – gerade weil ihr dieser Tag bewiesen hatte, daß sie kein Kind mehr war, daß sie zu den Akteuren einer größeren Geschichte gehörte, und weil sie sich beweisen mußte, diese Rolle auch verdient zu haben – zwang sie sich, nicht länger stehen zu bleiben und endlich über die Brücke zu gehen. Wenn der Wind ins Riedgras fuhr, klang von unten ein Rascheln herauf, das der Brückenbogen noch verstärkte; dann erscholl plötzlich ein Flügelschlagen auf dem Wasser, das ebenso abrupt wieder verstummte. Allein die Dunkelheit ließ diese alltäglichen Geräusche so laut klingen. Und Dunkelheit war eigentlich nichts weiter –
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