McEwan Ian
gegenüber handgreiflich geworden und hatte sich danach frech mit ihnen an den Tisch gesetzt, als wenn nichts geschehen wäre. Diese Scheinheiligkeit! Wie sie sich wünschte, ihn bloßzustellen. Das wahre Leben, ihr Leben, das nun begann, hatte ihr einen Bösewicht in Gestalt eines alten Freundes der Familie mit kräftigen, linkischen Gliedern und einem freundlichen, kantigen Gesicht geschickt, der sie früher oft Huckepack getragen hatte, der mit ihr im Fluß geschwommen war und sie dabei in der Strömung festgehalten hatte. Wie sinnig, dachte Briony – die Wahrheit war seltsam und trügerisch, sie mußte gegen die Strömung des Gewöhnlichen erkämpft werden. Und welch eine Überraschung – Bösewichter wurden weder durch lautes Zischen noch durch lange Monologe angekündigt, sie kamen auch nicht mit häßlichen Visagen, mit düsterem Gewand daher. Leon und Cecilia suchten vor dem Haus in der entgegengesetzten Richtung. Vielleicht könnte sie ihrem Bruder von Robbies Attacke erzählen. Dann würde er seinen Arm um ihre Schultern legen. Gemeinsam würden sich die Tallis-Kinder gegen diesen Widerling zur Wehr setzen, würden ihn rücksichtslos aus ihrem Leben verbannen. Sie würden ihrem Vater gegenübertreten, ihn bekehren, würden ihn über seine Wut und Enttäuschung hinwegtrösten müssen. Daß sein Schützling sich als Psychopath erweisen sollte! Lolas Wort wirbelte den Staub anderer, irgendwie verwandter Worte auf – Mann, Irrsinn, Axt, Brutalität, Gericht – und bestätigte die Diagnose.
Sie ging um die Stallgebäude herum, blieb nahe beim Uhrturm unter dem Torbogen stehen und rief die Namen der Zwillinge. Zur Antwort hörte sie nur trappelnde, scharrende Hufe und einen dumpfen Schlag, als ein schweres Gewicht gegen die Stallwand krachte. Sie war froh, daß sie sich nie für Pferde oder Ponys begeistert hatte, die sie in ihrer jetzigen Lebensphase doch nur vernachlässigen müßte. Und obwohl die Tiere ihre Nähe spürten, ging sie nicht zu ihnen hinein. Für die Tiere mußte sie ein Genie, eine kaum erreichbare Göttin sein; sie buhlten um ihre Aufmerksamkeit. Doch Briony wandte sich ab und ging weiter zum Schwimmbecken. Sie fragte sich, ob die ausschließliche Verantwortung für ein anderes Wesen, und sei es ein Pferd oder ein Hund, grundsätzlich mit der wilden, nach innen gewandten Reise zu vereinbaren war, die das Schreiben bedeuten konnte. Sorgenvolle Anteilnahme, sich auf die Eigenheiten eines anderen Wesens einzulassen, die Geschicke anderer fürsorglich zu lenken, das ließ sich wohl kaum geistige Freiheit nennen. Vielleicht würde sie eine jener Frauen werden – beneidet oder bemitleidet –, die sich entschieden, keine Kinder zu bekommen. Sie folgte dem Plattenweg, der außen um das Stallgebäude herumführte. Wie die Erde gaben jetzt auch die Sandsteinfliesen die Hitze wieder ab, die sie am Tag gespeichert hatten. Briony spürte sie auf ihren nackten Schenkeln und ihren Wangen, stolperte, als sie durch den dunklen Bambustunnel eilte, und gelangte schließlich zu den beruhigend geometrischen Fliesen am Beckenrand.
An die erst im Frühjahr installierten Unterwasserlampen hatte sie sich noch nicht gewöhnt. Ihr aufwärts strahlender, bläulicher Schimmer verlieh allen Dingen am Becken den farblosen, mondhellen Glanz einer Photographie. Zwei Gläser und ein Krug standen auf dem alten Blechtisch, daneben lag ein Tuch. Ein drittes Glas mit aufgeweichten Fruchtstücken stand einsam auf dem Sprungbrettende. Im Becken schwammen keine Leichen, kein Kichern drang aus der Dunkelheit des Pavillons, kein Geflüster aus dem Schatten des Bambusdickichts. Langsam schritt sie das Becken ab, hatte aber die Suche schon aufgegeben. Die gleißende, gläserne Stille des Wassers zog sie an. Der Psychopath mochte eine Gefahr für ihre Schwester sein, doch war es herrlich, so spät noch draußen herumzulaufen und dafür sogar die mütterliche Erlaubnis zu haben. Eigentlich nahm Briony auch nicht an, daß die Jungen in Gefahr waren. Selbst wenn sie die gerahmten Landkarten in der Bibliothek entdeckt hatten und clever genug gewesen waren, sie zu deuten, selbst wenn sie wirklich vorhatten, den Park zu durchqueren und die ganze Nacht lang nach Norden zu wandern, würden sie den Eisenbahnschienen durch den Wald folgen müssen. Zu dieser Jahreszeit hüllte jedoch ein dichtes Blätterdach den Weg in nachtschwarze Dunkelheit. Die einzige andere Route aber führte durch das Schwingtor unten am Fluß. Und selbst dort würde es
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