McEwan Ian
kein Stoff, keine greifbare Substanz, bloß die Abwesenheit von Licht. Die Brücke führte nur zu einer künstlichen Insel in einem künstlich angelegten See. Die Insel aber lag schon seit fast zweihundert Jahren dort, und vom übrigen Land unterschied sie nichts weiter, als daß sie durch Wasser von ihm getrennt war. Falls sie überhaupt jemandem gehörte, dann doch wohl ihr. Sie war die einzige, die herkam. Für alle anderen war dies nur der Weg nach Hause oder fort von daheim, ein Flecken Erde zwischen zwei Brücken, ein so vertrauter Teil der Landschaft, daß ihn niemand mehr wahrnahm. Hardman kam zweimal im Jahr mit seinem Sohn, um das Gras rund um den Tempel zu mähen. Die Landstreicher hatten hier Rast gemacht. Und manchmal beehrten vereinzelte Wildgänse das schmale, grasbewachsene Ufer, doch ansonsten war es das einsame Königreich der Kaninchen, Wasservögel und Wasserratten.
Es sollte also nicht weiter schwer sein, sich einen Weg die Böschung hinab zu bahnen und übers Gras zum Tempel zu laufen. Doch wieder zögerte sie und schaute sich einfach nur um, rief nicht einmal die Zwillinge beim Namen. Undeutlich schimmerte der fahle Bau im Dunkeln und schien sich sogar vollständig aufzulösen, wenn sie ihn ins Auge faßte. Bis dorthin waren es gut dreißig Meter, doch näher noch, mitten auf der Grasfläche, sah sie einen Busch, an den sie sich nicht erinnern konnte. Das heißt, in ihrer Erinnerung stand er viel näher am Ufer. Die Bäume waren irgendwie auch nicht richtig, zumindest nicht das, was sie von ihnen erkennen konnte. Die Eiche war viel zu klobig, die Ulme zu struppig, und beide schienen sich in ihrer Fremdartigkeit gegen sie verbündet zu haben. Als Briony die Hand ausstreckte, um das Brückengeländer zu berühren, erschreckte sie der schrille, unangenehme Schrei einer Ente, dessen letzter, erstickter Ton beinahe menschlich klang. Die Böschung war ziemlich steil, das hielt sie auf, ebenso wie der Gedanke, vergebens hinabzugehen. Aber die Entscheidung war gefallen. Rücklings machte sie sich an den Abstieg, hielt sich an Grasbüscheln fest und blieb unten erneut stehen, um sich die Hände am Kleid abzuwischen.
Sie ging direkt auf den Tempel zu, hatte sieben oder acht Schritte zurückgelegt und wollte gerade nach den Zwillingen rufen, als der Busch, der mitten in ihrem Weg stand - jener Busch, der ihrer Meinung nach eigentlich näher ans Ufer gehörte –, sich vor ihr aufzulösen begann, sich vielmehr verdoppelte, hin und her schwankte und sich dann in zwei Hälften teilte. Er änderte auf unbegreifliche Art sein Aussehen, wurde im unteren Ansatz schlanker, eine senkrechte Säule nun, die fast zwei Meter hoch aufstieg. Bestimmt wäre sie sofort stehengeblieben, wenn sie nicht immer noch fest davon überzeugt gewesen wäre, einen Busch vor sich zu haben, und davon, daß Blickwinkel und Dunkelheit ein seltsames Spiel mit ihr trieben. Noch ein oder zwei Sekunden, noch ein paar Schritte, da wußte sie, daß sie sich irrte. Sie erstarrte. Die senkrechte Masse war eine Gestalt, ein Mensch, der jetzt vor ihr zurückwich und mit dem dunkleren Hintergrund der Bäume verschmolz. Der verbleibende dunkle Fleck auf dem Boden war ebenfalls ein Mensch, der erneut die Konturen änderte, als er sich aufsetzte und ihren Namen rief.
»Briony?«
Sie hörte die Hilflosigkeit in Lolas Stimme – das war der Laut gewesen, den sie für den Schrei einer Ente gehalten hatte –, und im selben Moment wußte Briony Bescheid. Vor Abscheu und Angst wurde ihr übel. Die größere Gestalt tauchte wieder auf, lief am Rand der Grasfläche entlang und hastete zur Böschung, die sie gerade herabgekommen war. Sie wußte, sie sollte sich um Lola kümmern, mußte aber unwillkürlich dem Mann nachsehen, der rasch und mühelos den Abhang hinauflief und auf dem Weg verschwand. Er lief zum Haus, sie hörte seine Schritte. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel. Sie würde ihn beschreiben können. Es gab nichts, was sie nicht beschreiben konnte. Sie kniete neben ihrer Kusine.
»Alles in Ordnung, Lola?«
Briony berührte Lolas Schulter und tastete vergebens nach ihrer Hand. Lola saß vornübergebeugt, die Arme vor der Brust gekreuzt, und schwankte leicht. Ihre Stimme klang schwach und belegt, wie von einer Blase, etwas Speichel in der Kehle gedämpft. Sie mußte sich räuspern. Ein wenig unsicher sagte sie: »Es tut mir leid, entschuldige, ich wollte nicht…« Briony flüsterte: »Wer war’s?«, und ehe Lola antworten konnte, setzte sie
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