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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Blick über die Schulter, als sie bereits durch die Tür gezogen wurde, zeigte ihr Robbie, wie er die Arme hob, als wollte er sich ergeben. Er stemmte den Jungen hoch, hievte ihn über seinen Kopf und stellte ihn behutsam auf den Boden.
Eine Stunde später lag sie in dem sauberen, weißen Baumwollnachthemd, das Betty für sie herausgesucht hatte, in ihrem Himmelbett. Die Vorhänge waren zugezogen, doch glitzerte an ihren Rändern Tageslicht, und obwohl ihr vor Müdigkeit fast schwindlig war, konnte sie nicht schlafen. Stimmen und Bilder reihten sich um ihr Bett, gereizte, nörgelnde Wesen, die drängelten oder miteinander verschmolzen und jedem ihrer Versuche widerstanden, ein wenig Ordnung ins Geschehene zu bringen. Waren sie wirklich alle Teil eines einzigen Tages, einer einzigen, durch keinen Schlaf unterbrochenen Zeitspanne, von den unschuldigen Proben für ihr Stück bis hin zu dem Riesen im Nebel? Die letzten Vorfälle waren einfach zu laut, zu ungreifbar gewesen, um verstanden werden zu können, doch spürte sie, daß sie gewonnen, ja, daß sie triumphiert hatte. Sie trat die Decke fort, drehte das Kissen um und suchte nach einem kühlen Fleck für ihre Wange. In ihrer Verfassung vermochte sie nicht genau zu sagen, was sie eigentlich gewonnen hatte, denn falls es eine gewisse Reife sein sollte, konnte sie jetzt nichts davon spüren: So kindlich, sogar hilflos fühlte sie sich vor lauter Schlafmangel, daß sie meinte, jeden Moment in Tränen ausbrechen zu müssen. Wenn es tapfer gewesen war, einen durch und durch bösen Menschen dingfest zu machen, dann war dieser Auftritt mit den beiden Zwillingen einfach schändlich von ihm. Sie fühlte sich betrogen. Wer würde ihr jetzt noch glauben, wenn Robbie als der freundliche Retter der entlaufenen Kinder dastand? Ihre Mühe, ihr Mut, ihre Besonnenheit, all das, was sie selbst getan hatte, um Lola nach Hause zu bringen – vergebens. Ohne Ausnahme würden sie ihr den Rücken zukehren, ihre Mutter, die Polizisten, ihr Bruder, und würden mit Robbie Turner irgendein erwachsenes Komplott aushecken. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, wollte die Arme um ihren Hals schlingen und ihr liebes Gesicht zu sich herabziehen, aber ihre Mutter würde jetzt nicht kommen, niemand würde zu Briony kommen, niemand würde jetzt noch mit ihr reden wollen. Sie verbarg ihr Gesicht im Kissen, ließ die Tränen hineinkullern und fühlte genau, daß alles noch viel schlimmer war, weil es keinen Zeugen für ihren Kummer gab.
Sie hatte etwa eine halbe Stunde im Halbdunkel gelegen und sich ihrem köstlichen Kummer hingegeben, als sie hörte, wie unter dem Fenster der Motor des Polizeiwagens angelassen wurde. Er rollte über den Kies und blieb erneut stehen. Gleich darauf folgte das Knirschen mehrerer Schritte, dann wurden Stimmen laut. Sie erhob sich und zog die Vorhänge beiseite. Es war noch nebelig, aber der Nebel war heller, fast, als würde er von innen erleuchtet, und sie kniff die Augen zusammen, um sich an sein grelles Licht zu gewöhnen. Alle vier Türen des Humbers waren geöffnet, drei Polizisten standen wartend daneben. Die Stimmen kamen aus einer Gruppe direkt unter ihr, gleich neben der Haustür, doch konnte sie niemanden sehen. Schließlich hörte sie wieder Schritte, und da tauchten sie auch schon auf, die zwei Inspektoren, Robbie in ihrer Mitte. Mit Handschellen! Er hielt die Hände nach vorn, und von ihrem erhöhten Platz konnte sie sogar den silbrigen Stahlschimmer um die Manschetten erkennen. Was für eine Schande, dachte sie entsetzt. Doch auch dies bestätigte seine Schuld, und seine Strafe begann. Es schien, als wäre es die ewige Verdammnis. Sie gingen zum Wagen und blieben stehen. Robbie wandte sich halb um, aber Briony konnte sein Gesicht nicht erkennen. Er stand aufrecht, war mehrere Zentimeter größer als der Inspektor und reckte den Kopf. Vielleicht war er ja stolz auf das, was er getan hatte. Einer der Polizisten setzte sich auf den Fahrersitz. Der jüngere Inspektor ging um den Wagen herum zur hinteren Tür auf der anderen Seite, und sein Vorgesetzter wollte Robbie auf den Rücksitz bugsieren, als direkt unter Brionys Fenster ein heftiger Tumult ausbrach, ein scharfer Ruf ertönte, offenbar von Emily Tallis, und eine Gestalt plötzlich auf den Wagen zurannte, so rasch, wie dies in einem engen Kleid eben möglich war. Kurz vor dem Wagen wurde Cecilia langsamer. Robbie drehte sich um und ging ihr einen halben Schritt entgegen; der Inspektor aber wich, wie Briony

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