McEwan Ian
erstaunt bemerkte, ein Stück zurück. Obwohl die Handschellen nicht zu übersehen waren, schien Robbie sich weder zu schämen noch die Fesseln zu spüren, als er vor Cecilia stand und sich mit ernstem Gesicht anhörte, was sie zu sagen hatte. Die Polizisten schauten ungerührt zu. Falls ihre Schwester ihm die heftigen Vorhaltungen machte, die er zu hören verdiente, verriet er dies jedoch mit keiner Miene. Briony fand, daß Cecilia, obwohl sie ihr den Rücken zukehrte, sich ebenfalls ziemlich unaufgeregt mit ihm unterhielt. Allerdings würden ihre Anschuldigungen sicherlich viel heftiger wirken, wenn sie mit leiser Stimme vorgebracht wurden. Jetzt standen sie eng beieinander, und Robbie erwiderte einige Worte, hob die gefesselten Hände und ließ sie wieder sinken. Cecilia berührte sie kurz, spielte dann mit den Fingern an seinem Revers, griff fest zu und schüttelte ihn sanft. Beinahe eine zärtliche Geste, dachte Briony und fand es ergreifend, daß ihre Schwester offenbar bereit war, Robbie zu vergeben, falls es denn darum ging. Um Vergebung. Das Wort hatte ihr bis zum heutigen Tag nicht viel bedeutet, obwohl sein Loblied in Schule oder Kirche tausendfach gesungen worden war. Ihre Schwester aber hatte schon immer darüber Bescheid gewußt. Nun, sicher war da so manches, was Briony nicht über ihre Schwester wußte. Doch sie hatten Zeit. Diese Tragödie würde sie gewiß noch enger zusammenschweißen.
Scheinbar fand der freundliche Inspektor mit dem Granitgesicht, daß er nachsichtig genug gewesen war, denn er trat nun vor, wischte Cecilias Hand beiseite und drängte die beiden auseinander. Rasch rief ihr Robbie noch etwas über die Schulter des Beamten zu und drehte sich dann zum Wagen um. Der Inspektor hob fürsorglich eine Hand, legte sie Robbie auf den Kopf und preßte ihn nachdrücklich nach unten, damit er sich nicht anstieß, wenn er sich bückte, um auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Die beiden Inspektoren zwängten sich links und rechts von ihrem Gefangenen ins Auto. Die Tür schlug zu, und der zurückgelassene Beamte hob salutierend die Hand an den Helm, als der Wagen davonfuhr. Cecilia blieb, wo sie war, blickte die Zufahrt hinunter und sah still dem Wagen nach, doch ein Zucken ihrer Schultern verriet, daß sie weinte, und Briony wußte, sie hatte ihre Schwester noch nie so geliebt wie eben jetzt. Damit hätte er enden sollen, dieser nahtlose, um eine Sommernacht verlängerte Tag; er hätte damit aufhören sollen, daß der Humber in der Ferne verschwand. Doch eine letzte Begegnung stand noch aus. Der Wagen war keine zehn Meter weit gefahren, als er wieder langsamer wurde. Eine Gestalt, die Briony zuvor nicht aufgefallen war, ging ihm mitten auf der Zufahrt entgegen und machte keinerlei Anstalten, zur Seite auszuweichen. Es war eine Frau, ziemlich klein, mit kurzen, tippelnden Schritten. Sie trug ein geblümtes Kleid, und eine Hand umklammerte etwas, das auf den ersten Blick wie ein Stock aussah, tatsächlich aber ein Männerschirm mit einem als Gänsekopf geformten Griff war. Der Wagen hielt an. Die Hupe ertönte, als die Frau näher kam und direkt vor dem Kühlergrill stehenblieb. Es war Grace Turner, Robbies Mutter. Sie hob den Schirm und schrie. Der Polizist auf dem Beifahrersitz war ausgestiegen und redete auf sie ein, dann faßte er sie am Ellbogen. Ein zweiter Polizist – derjenige, der salutiert hatte – kam angelaufen. Mrs. Turner riß ihren Arm los, hob erneut den Schirm, diesmal mit beiden Händen, und ließ ihn, Gänsekopf voran, mit einem Knall wie ein Pistolenschuß auf die blitzende Motorhaube des Humbers niedersausen. Als die Beamten sie halb schiebend, halb tragend an den Wegrand drängten, schrie sie ein einzelnes Wort so laut, daß Briony es in ihrem Schlafzimmer verstehen konnte. »Lügner! Lügner! Lügner!« brüllte Mrs. Turner immer wieder. Mit weitgeöffneter Beifahrertür rollte der Wagen langsam an ihr vorbei und hielt noch einmal an, um den Polizisten wieder einsteigen zu lassen. Sein Kollege hatte Mühe, die Frau zu bändigen. Sie konnte noch einmal ausholen, doch prallte der Schlag am Wagendach ab. Dann entwand er ihr den Schirm und warf ihn über die Schulter hinter sich ins Gras.
»Lügner! Lügner!« rief Grace Turner immer wieder,
rannte verzweifelt dem entschwindenden Wagen hinterher, blieb einige Schritte später stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah ihm nach, wie er über die erste Brücke fuhr, dann über die zweite und schließlich im Weiß
Weitere Kostenlose Bücher