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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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verschwand.

ZWEITER TEIL
    E ntsetzliches gab es genug, doch waren es die unvermuteten Einzelheiten, die ihn zermürbten und nicht mehr losließen. Als sie nach einem gut fünf Kilometer langen Marsch auf schmaler Straße zu einem Bahnübergang kamen, sah er, daß der Pfad, den er gesucht hatte, sich nach rechts davonschlängelte, abfiel und dann zu jenem Wäldchen anstieg, das den flachen Hügel im Nordwesten bedeckte. Sie waren stehengeblieben, damit er auf der Karte nachsehen konnte. Aber die war nicht da, wo sie sein sollte. Sie war nicht in seiner Tasche und steckte auch nicht in seinem Gürtel. Hatte er sie verloren, sie bei der letzten Rast liegengelassen? Er warf den Militärmantel ab und griff in seine Jacke. Dann entdeckte er sie. Er hielt die Karte in der linken Hand, und dort mußte sie seit über einer Stunde gewesen sein. Er blickte zu den anderen beiden hinüber, aber die hatten ihm den Rücken zugedreht, standen jeder für sich und rauchten stumm. Sie war immer noch in seiner Hand. Er hatte sie den Fingern eines Hauptmanns der Royal West Kents entwunden, der in einem Graben gelegen hatte, irgendwo vor - wo eigentlich? Es gab nicht viele solcher Karten von der Etappe. Er hatte dem Toten auch die Pistole abgenommen, dabei wollte er sich gar nicht als Offizier ausgeben. Er hatte sein Gewehr verloren und wollte nur überleben.
Der gesuchte Pfad begann vor einem zerbombten Haus, ziemlich neu, vermutlich ein Bahnwärterhaus, seit dem letzten Mal wiederaufgebaut. Um eine Pfütze in einer Reifenfurche entdeckte er Tierspuren im Schlamm. Bestimmt Ziegen. Überall lagen gestreifte Tuchfetzen mit angesengten Rändern, Reste von Vorhängen oder Kleidern; ein zerschmetterter Fensterrahmen hing über einem Busch, und es roch nach feuchtem Ruß. Dies war ihr Pfad, ihre Abkürzung.
Er faltete die Karte zusammen, bückte sich nach seinem Mantel, richtete sich wieder auf und warf ihn sich um die Schultern, als er es sah. Die beiden anderen spürten seine Bewegung, drehten sich um und folgten seinem Blick. Es hing ein Bein in einem Baum, einer ausgewachsenen Platane, die gerade erst neue Blätter getrieben hatte. Das Bein hing knapp sieben Meter hoch, eingekeilt in der ersten Astgabel, nackt, sauber überm Knie abgetrennt. Von ihrem Platz aus war kein Zeichen von Blut oder zerfetzter Haut zu erkennen. Es war ein vollkommenes Bein, bleich, glatt, klein genug, um einem Kind gehören zu können. Wie es da in der Astgabel steckte, sah es aus, als wäre es zu ihrer Besinnung oder ihrer Belehrung ausgestellt: Dies ist ein Bein.
Die beiden Unteroffiziere gaben einen angewiderten Laut von sich und nahmen ihre Sachen. Sie wollten damit nichts zu tun haben. In den letzten Tagen hatten sie genug gesehen. Nettle, der Lastwagenfahrer, nahm sich noch eine Zigarette und fragte: »Und? Wo geht’s weiter, Boss?«
Sie nannten ihn so, um das schwierige Problem mit seinem Rang zu umgehen. Hastig bog er in den Pfad ein, rannte fast. Er wollte weiter, wollte ihrem Blick entkommen. Damit er kotzen oder kacken konnte, was, wußte er selbst nicht. Hinter einer Scheune, neben einem Stapel zerbrochener Dachpfannen, begann sein Körper mit ersterem. Er war durstig, er konnte es sich nicht leisten, die Flüssigkeit zu verlieren. Er trank aus der Feldflasche, ging um die Scheune herum und nutzte diesen Augenblick des Alleinseins, um sich die Wunde anzusehen. Sie war rechts, gleich unterhalb der Rippenbögen, knapp halb so groß wie eine Münze. Und sie hatte gar nicht mal schlimm ausgesehen, als er gestern das getrocknete Blut abgewaschen hatte. Die Haut war leicht gerötet, aber nicht besonders stark geschwollen. Doch irgendwas steckte in ihm drin. Er konnte spüren, wie es sich beim Laufen bewegte. Vielleicht ein Schrapnellsplitter.
Als die Unteroffiziere ihn eingeholt hatten, war das Hemd wieder in die Hose gestopft, und er tat, als studiere er die Karte. In ihrer Gesellschaft war die Karte seine einzige Zuflucht. »Weshalb die Eile?«
»Er hat ein paar Miezen gesehen.«
»Quatsch, es ist die Karte. Er hat wieder seine Zweifel.« »Keine Zweifel, meine Herren. Das hier ist unser Weg.« Er nahm sich eine Zigarette, und Unteroffizier Mace gab ihm Feuer. Damit sie nicht merkten, wie sehr seine Hände zitterten, ging Robbie Turner gleich weiter, und sie folgten ihm, wie sie ihm nun schon seit zwei Tagen folgten. Oder waren es drei? Er stand im Rang unter ihnen, aber sie folgten ihm und taten alles, was er vorschlug; bloß um ihren Stolz zu wahren,

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