McEwan Ian
sie eingenommen, wer sie verteidigt oder wer die Oberhand behalten hatte. Sie waren über Landstraßen gefahren, um dem Flüchtlingschaos auszuweichen, und sie hatten brennende Bauernhäuser gesehen. Dann hätten plötzlich fast ein Dutzend Engländer tot auf ihrem Weg gelegen. Da sie nicht über sie drüber fahren wollten, mußten sie aussteigen und die Männer beiseite ziehen, doch einige waren fast in zwei Hälften zerfetzt. Offenbar ein Angriff mit einem großen Maschinengewehr, vielleicht ein Hinterhalt, vielleicht auch ein Angriff aus der Luft. Als sie wieder im Laster saßen, mußte Henri sich übergeben, und Jean-Marie, der am Steuer saß, bekam einen solchen Schreck, daß er in den Graben fuhr. Sie liefen ins nächste Dorf, liehen sich von einem Bauern zwei Gäule aus und zogen ihren Renault zurück auf die Straße. Das kostete sie zwei Stunden. Als sie dann wieder unterwegs waren, sahen sie ausgebrannte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, deutsche, aber auch britische und französische, doch sie sahen keine Soldaten mehr. Der Krieg war weitergezogen.
Erst spät am Nachmittag erreichten sie das Dorf. Es war verlassen und völlig zerstört. Das Haus ihrer Kusine glich einer Ruine, überall Einschußlöcher in den Wänden, nur das Dach war noch ganz. Sie sahen in allen Zimmern nach und waren erleichtert, als sie niemanden fanden. Offenbar hatte sie die Kinder mitgenommen und sich den abertausend Menschen auf den Straßen angeschlossen. Da sie sich davor fürchteten, im Dunkeln zurückzufahren, hielten sie in einem Wald an und versuchten, auf ihren Sitzen zu schlafen. Die ganze Nacht hörten sie, wie die Artillerie Arras bombardierte. Da konnte unmöglich irgendwer oder irgendwas überlebt haben. Sie fuhren schließlich eine andere Strecke zurück, die zwar viel länger war, aber dafür mußten sie nicht wieder an den toten Engländern vorbei. Und jetzt, erklärte Henri, seien sie hundemüde. Wenn sie die Augen schlössen, sähen sie die verstümmelten Leichen vor sich. Jean-Marie schenkte ihnen nach. Der Bericht hatte, mit Turners Übersetzung, fast eine Stunde gedauert. Längst war bis auf den letzten Krümel alles aufgegessen. Turner dachte daran, ihnen von seinem grausigen Detail zu erzählen, wollte aber nicht noch mehr Entsetzen verbreiten. Vor allem aber wollte er den Anblick nicht wieder aufleben lassen, den Wein und Kameradschaft gerade in den Hintergrund gedrängt hatten. Also erzählte er statt dessen, wie er zu Beginn des Rückzugs durch einen Stuka-Angriff von seiner Einheit getrennt worden war. Seine Verletzung erwähnte er mit keinem Wort. Er wollte nicht, daß die Unteroffiziere davon erfuhren. Lieber erklärte er, daß sie nach Dünkirchen marschierten, querfeldein, wegen der Luftangriffe auf den Hauptrouten.
»Also stimmt es, was man sich erzählt«, sagte Jean-Marie. »Ihr zieht ab.«
»Wir kommen wieder«, sagte er, glaubte aber nicht
daran.
Der Wein stieg Unteroffizier Nettle zu Kopf. Er hob zu einem geschwätzigen Lobeslied auf die »Franzweiber« an wie er sie nannte, die üppig, willig und so wunderbar seien. Nichts als reine Phantasie. Die Brüder schauten fragend zu Turner hinüber.
»Er sagt, die Frauen Frankreichs seien die schönsten der Welt.«
Sie nickten feierlich und hoben ihre Gläser. Eine Weile schwiegen sie. Der Abend ging seinem Ende zu, und sie lauschten auf die nächtlichen Geräusche, an die sie sich längst gewöhnt hatten: das Wummern der Artillerie, weit fort vereinzelte Schüsse, das laute Krachen einer fernen Explosion – vermutlich Pioniere, die auf dem Rückzug eine Brücke sprengten.
»Frag sie nach ihrer Mutter«, schlug Unteroffizier Mace vor. »Möchte doch zu gern wissen, was mit der los ist.«
»Wir waren drei Brüder«, erklärte Henri. »Der Älteste, Paul, ihr erstgeborenes Kind, starb 1915 vor Verdun. Eine Granate. Bis auf seinen Stahlhelm hat man nichts von ihm gefunden, was man beerdigen konnte. Wir beide haben Glück gehabt, sind ohne einen Kratzer davongekommen. Doch seitdem haßt sie Soldaten. Mittlerweile ist sie dreiundachtzig und nicht mehr ganz bei Verstand, aber die Sache mit den Soldaten ist zur reinsten Zwangsvorstellung geworden. Ob Franzosen, Engländer, Belgier oder Deutsche, das ist ihr egal. Für sie seid ihr alle gleich. Aber wir haben Angst, daß sie eines Tages mit der Mistgabel auf die Deutschen losgeht und erschossen wird.« Müde standen die beiden Brüder auf. Die Soldaten erhoben sich mit ihnen.
»Wir hätten euch gern an unserem
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