McJesus
Nachttischschublade lag. Ihre trostlosen Augen blickten ins Leere, als sie überlegte, wie sich die rostige Klinge anfühlen würde, wenn sie sie benützte – wenn sie die Kraft oder den Mut oder was immer ihr dazu fehlte, aufbringen könnte. Wie lange war sie schon hier? Was war mit Michael geschehen? War er in Schwierigkeiten? Nein, nein, jetzt fiel es ihr wieder ein. Er war tot. Aber wie war er gestorben? Warum? Sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie fühlte es. Man hatte ihr gesagt, Dan sei tot, aber sie wusste es besser. Dan gab sich als Priester aus. In solchen Dingen lassen sich Mütter nichts vormachen.
Hatte Dan seinen Bruder getötet? So wie Kain und Abel? Nein, das würde Dan nicht tun. Aber diese Gewissheit erklärte auch nicht, was mit Michael geschehen war. Es musste etwas Schreckliches gewesen sein.
Und genauso schrecklich war ihr ganzes Leben. Sie hatte so viel Pech im Leben gehabt und nie eine Chance, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Warum musste all das Unglück geschehen? Die braven Kirchgänger sagten, es sei Gottes Wille.
Aber welcher Gott würde so etwas tun? Vielleicht der aus dem Alten Testament. Aber welchen Sinn hatte ein so schreckliches und leeres Leben? War sie nur dazu da, damit anderen eine Lektion erteilt wurde? Sie war zu einem Leben ohne jede Zukunftsaussicht verurteilt. Ohne wenigstens eine Möglichkeit, lohnte es sich da, zu kämpfen? Ohne Aussicht gab es keine Hoffnung. Warum glich ihr Leben so gar nicht dem der glücklichen Menschen in den Fernsehspots, die ihr Sohn machte? Sie sollte von Anfang an leiden. Wo war ihr anderer Sohn? Und warum wirkten die Tabletten nicht? Es war egal. Wo war ihr Schutzengel? Die Augen taten ihr weh. Sie wollte sterben. Vielleicht würde sie dann ihren Sohn finden oder vielleicht den Sohn Gottes. Sie könnte ihn persönlich um Vergebung bitten.
Sie bräuchte nur die Energie, um die Rasierklinge aus der Schublade zu nehmen. Dann könnte sie ihre Pulsadern öffnen und all ihren Schmerz und ihre Enttäuschung verrinnen lassen. Niemand anderer würde das für sie tun. Vielleicht würden die Fragen einen Sinn ergeben, wenn sie nicht mehr lebte. Es schien der einzige Ausweg zu sein. Es war das einzig Richtige.
Gott ist gut. Die drei Worte gingen Oren Prescott immer wieder durch den Kopf. Ja, Gott ist fabelhaft. Oren bewunderte sein Konterfei auf dem Titelblatt der Zeitschrift Advertising Age und schwelgte in dem Ruhm, den ihm die Fujioka-Kampagne eingebracht hatte. More is more war zum beliebtesten Slogan geworden seit Where ’s the beef? Was als kleiner Werbespruch begonnen hatte, war zu einem noch nie da gewesenen Verkaufsschlager geworden. Die Umsätze von More is more- T-Shirts, Baseballmützen und anderem Ramsch hatten bereits die Zwanzig-Millionen-Dollar-Marke überschritten. Diese Werbung war in jeder nur möglichen Hinsicht ein Riesenerfolg, im Inland wie im Ausland.
Auch Burger Doodle, eine der größten Fastfood-Ketten, sprang auf den Zug auf und lancierte zur Stärkung der Kundenbindung den More-is-more-Meal-Deal – was dem amerikanischen Konsumfieber ebenso entgegenkam wie alles andere auf dieser Schiene.
Auf Oren Prescotts Schreibtisch lagen die Ergebnisse einer Untersuchung des Verbands der Werbeindustrie, aus der hervorging, dass die Menschen Hunger als einen der letzten Gründe nannten, warum sie zu Fastfood griffen. Dank der Werbung aß man heute in Amerika mehr zum Spaß, als um den Hunger zu stillen. Es ging um vergnügliches, um glückliches Essen, nicht um gutes Essen. Chuck E. Cheese war für Kinder das Gleiche wie Planet Hollywood und Hardrock Café für die Erwachsenen – Cholesterin spendende Systeme in der Verkleidung von Liveaction-Musikvideos. Das Versprechen, mit jeder warmen Tüte Fett ein unterhaltsames Erlebnis zu bekommen, war für diese Restaurants die beste Möglichkeit, sich von ihren Konkurrenten zu unterscheiden.
Eine andere Möglichkeit bestand darin, die Produkte immer größer zu verkaufen. Bigger is better! More is more! Die ursprüngliche Coca-Cola wurde in einer 170-Milliliter-Flasche verkauft; nun propagierte die Werbung die Ein-Liter-Flasche. Das Gleiche galt für Fastfood. Eine gute Werbekampagne konnte einen schlichten Hamburger mit Pommes unzulänglich, ja sogar peinlich wirken lassen neben einem über Kreuz gegrillten doppelten Schinken-Cheeseburger und den Jumbo-Whopper-Supersize-Fritten.
Natürlich kümmerten sich die Leute in der Werbebranche nicht um die negativen
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