Mea culpa
mich nie erreicht hat.
Doch die Sehnsucht nach ihr will sich nicht legen. Ich frage mich, ob das jemals passieren wird. Ab und zu ertappe ich mich dabei, dass ich ohne Grund auf die Uhr schaue. Das kann natürlich daran liegen, dass sie mir diese Uhr geschenkt hat, eine Sportuhr, die ich mir schon lange gewünscht hatte, mir aber nicht leisten konnte, und die auf meinem Nachttisch lag, als ich einen Verlag für mein erstes Buch gefunden hatte; ich stolperte nach Hause, von einem improvisierten Fest mit Freundinnen, die ich glaubte verloren zu haben, einem Fest, an dem sie nicht teilnehmen konnte, weil sie sich um die Kinder kümmern musste, aber als ich nach Hause kam und ins Bett fiel, lag sie da, auf dem Nachttisch, die Uhr, die ich mir immer schon gewünscht hatte. Mit einer Gravur auf der Rückseite: R + S = 1, gefolgt vom Datum. Ich lege diese Uhr hier unten nur beim Duschen ab, und wenn ich mich danach abtrockne, leuchtet auf meinem dunkelbraunen Arm ein kreideweißer runder Fleck auf und erinnert mich daran, wo ich eigentlich hingehöre.
Aber nicht deshalb schaue ich auf die Uhr. Ich schaue auf die Uhr, um die Zeit im Auge zu behalten. Ich versuche, festzustellen, ob der Schmerz vergeht, weil doch behauptet wird, dass die Zeit dabei helfen kann.
Bisher habe ich nichts davon gemerkt, bestimmt ist das alles gelogen.
16
Diesmal dauerte es länger, und etwas war zwischen ihnen passiert. Rebecca war in ein wirkliches Wellental versunken. Schlimmer als bei den anderen Malen. Viel schlimmer. Deshalb dauerte es so lange. Zwei ganze Wochen.
Synne gab sich alle Mühe, um die absurde Szene am sonntäglichen Esstisch der Familie Schultz zu verdrängen. Christian, mit seinem wachsamen Blick, erfüllt von einer Skepsis, die er vermutlich nicht einmal deuten konnte – vielleicht, weil alles zu schwer wiegend war, vielleicht, weil es unvorstellbar war.
Die Kinder waren das Schlimmste. Die Begegnung mit den Kindern.
Ihr Gedächtnis wurde ihr jetzt zur Qual. Für jeden Gedanken, den sie verdrängen konnte, tauchten alte Erinnerungen auf. Ihr Gehirn kam ihr vor wie ein riesiger Raum, der um alles in der Welt die ganze Zeit voll sein musste. Vollgestopft.
Ein Badezimmer mit schwarzen und weißen Fliesen, wie ein schräg gestelltes Schachbrett aus Linoleum. Ihre allererste Erinnerung. Sie war drei Jahre alt. Vielleicht war es ein Sonntag. Sie hatten Zeit genug. Der Säugling lag auf dem Boden, auf einem Frotteehandtuch. Das Baby war rosa, mit Puder, der wie Puderzucker über den nackten Leib und die strampelnden Beine gestreut worden war. Es lächelte vorsichtig und stieß an allerlei Stellen allerlei Geräusche aus.
Die Mutter lachte, ging in die Hocke und legte die Hand auf den Babymund. Ihre milchschweren Brüste wogten schwer und träge über dem Gesicht des Säuglings, der den Mund aufriss und gurgelte, und dann floss Milch aus der Brustwarze der Mutter, ein paar Tropfen, die auf das Kind fielen. Sie strich sie vorsichtig mit dem Daumen fort und erhob sich.
Das winzige Badezimmer mit den schwarzweißen Fliesen war warm und feucht und stickig. Synne schnupperte an ihrer Schwester, in tiefen, langen Zügen, die den Duft von Mama und Seife und Zucker bis hinunter in ihren Magen trugen. Sie schmiegte sich an das Baby, doch der blitzschnelle Blick ihrer Mutter hinderte sie an dem absoluten Kontakt, den sie sich so sehr wünschte. Sie hätte ihre Schwester gern hart und fest und wunderschön an sich gedrückt, damit der Duft in ihrer Nase sitzenblieb. Plötzlich drehte sie sich auf den Rücken, strampelte mit den Beinen und ahmte den Säugling nach. Der wandte ihr das Gesicht zu. Das Baby hatte nur ein Lachgrübchen, und das saß nicht an der richtigen Stelle. Nicht in der Wange, sondern fast unten am Kinn. Die Kleine sah aus wie Papa. Und sie roch wie Mama.
Synne blieb ganz ruhig auf dem Rücken liegen. Ihre Eltern putzten sich die Zähne. Sie waren so unterschiedlich. Der Vater war überall behaart, weshalb seine Haut dunkler aussah als die der Mutter, obwohl es doch mitten im Winter war, entsetzlich lange her seit Sommer und Sonne und Oma. Die blasse Haut der Mutter sah glatt aus und so weich; ihre Oberschenkel bebten ein wenig, als der Vater sie mit der Hüfte beiseite schob, mit einer Art Liebkosung, die die Mutter dazu brachte, loszuprusten und den Spiegel mit Zahnpasta zu bespritzen.
»Du, Papa …«
»Mmm … grrr … ptui!«
»Warum hast du so harte Oberschenkel und Mama so weiche?«
Synne kniete jetzt
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