Mea culpa
hatte. Rebeccas Leben war seit ihrem Eintreffen in Norwegen geradlinig und vorhersagbar verlaufen, erfolgreich und engumrissen und mit Verantwortung für Kinder und Haus und Karriere, bis in alle Ewigkeit. Synne hatte sich durch eine Kindheit und dann kopfüber in eine heftige Jugendzeit treiben lassen. Als Erwachsene hatte sie sich ihren eigenen Weg gesucht, in der Gewissheit, jederzeit die Richtung ändern zu können, plötzlich und ohne Vorwarnung und ohne jemand anderem als sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen. Vielleicht lag es daran, dass sie im Abstand von vierzehn Jahren geboren worden waren.
Dennoch fand sie es wunderbar, dass Rebecca älter war als sie. Sie wurde von einer Frau begehrt, von einer wirklichen Frau.
Sie liebte eine zehn Zentimeter lange, breite Narbe oben an Rebeccas Oberschenkel. Natürlich hatte sie die gleich beim allerersten Mal entdeckt, als sie zusammen nackt gewesen waren, die Narbe war sehr deutlich und hatte die Farbe roher Leber. Aber sie fragte erst nach einiger Zeit danach. Rebecca versuchte immer, die Narbe zu verbergen, ihre Hand schien automatisch an ihren Oberschenkel zu wandern und sich dort niederzulassen, wie ein Verband, bis sie für etwas anderes gebraucht wurde.
»Weißt du, dass dort die Milch gespeichert wird?«, flüsterte Synne eines Abends gegen Rebeccas linken Oberschenkel.
»Was?«
»Genau so, wie das Reh die Frau vom Hirsch ist. Das habe ich noch mit neun Jahren geglaubt. Du darfst die Wissbegierde von Kindern nicht mit albernen Geschichten stillen, Rebecca. Nie. Was ist das?«
»Ach, das. Das ist hässlich. Das weiß ich.«
Sie zog mit raschen Händen die Decke über ihre Oberschenkel.
»Das ist überhaupt nicht hässlich«, sagte Synne. »Aber wo hast du es her? Was ist passiert?«
»Ich müsste etwas daran machen lassen. Das weiß ich.«
»Rebecca!«
»Benedicte war ins Wasser gefallen. Sie war erst drei. Ich sprang hinterher.«
»Und dann?«
»Da war eine Eisenstange angebracht, ganz knapp unter dem Wasserspiegel. Es war Flut, deshalb war sie nicht zu sehen. Aber ich habe Benedicte erwischt. Es ist gutgegangen.«
Sie legte wieder die Hand auf die Narbe. Die hatte jetzt etwas Feierliches an sich, wie eine Medaille, und Synne zog die Hand weg.
»Du darfst nichts daran machen lassen! Das ist eine Erinnerung! Und richtig toll!«
Rebecca lachte. Sie lachte ihr leises, reifes, glucksendes Lachen, das Synne liebte, das Lachen, das bedeutete, dass Synne ein Dussel war, aber ein wunderbarer Dussel.
Synne betete Rebeccas linken Oberschenkel an. Dennoch konnte sie Rebecca nie davon abhalten, ihn zu bedecken, mechanisch, wann immer sie sie überraschte, im Badezimmer, auf der Toilette oder wenn Synne sich zu ihr ins Bett stehlen wollte.
»Woher kommst du?«, flüsterte Synne und verbarg ihre Augen, indem sie die Narbe küsste. »Kannst du mir das nicht erzählen, Rebecca?«
Der Oberschenkel bebte, und die Narbe schmeckte nach Salz. »Christian will, dass ich sie wegmachen lasse. Dass ich irgendetwas damit machen lasse, meine ich.«
»Woher kommst du, Rebecca?«
»Aus Korea, das weißt du doch.«
Sie setzte sich im Bett auf, und Synne blieb mit dem Gesicht auf ihren Knien liegen.. Rebecca schob sie fort und wickelte sich fest in die Decke. Im Zwielicht waren ihre Augen zwei schwarze Löcher, in denen ein Lichtstrahl von der Tür her ein leises Funkeln erzeugte. Diamantenaugen. »Aber …«
Synne setzte sich ebenfalls auf, ohne Decke, sie stützte sich auf den rechten Arm und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Du bist doch …«
»Zu alt?«
»Ja … nein, wann bist du also hergekommen?«
Rebecca musterte ausgiebig die Vorhänge.
»1950«, sagte sie endlich. »Zwei Wochen nach Kriegsbeginn.«
»Aber ich habe nachgesehen, und die Kinder aus Korea kamen erst nach …«
»Mein Adoptivvater war selber dort. Er war jung, und zuerst arbeitete er für die USA und dann für die UNO . Er hat mich in Seoul auf der Straße aufgelesen. Ich war vier Jahre alt. Mehr gibt es eigentlich nicht zu erzählen.«
»Von der Straße? Warst du denn nicht in einem Waisenhaus oder so? Und deine Mutter? Weißt du irgendwas über deine Eltern?«
»Ehrlich gesagt, Synne, das ist nicht so schrecklich interessant.«
Sie erhob sich und ging zur Toilette. Als sie zurückkam, begann sie, sich anzuziehen. Sie schob die Arme in den Pullover, blieb aber für einen Moment stehen, ehe sie ihn über ihren Kopf streifte.
»Meine Mutter war tot. Das steht jedenfalls
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