Mea culpa
sie im Flugzeug saßen.
Ein idiotisches, ein wahrhaft idiotisches Frauenzimmer am Check-in hatte sie zu beiden Seiten des Mittelgangs platziert. Synne geriet in Panik. Zu ihrer Linken saß eine Frau mit einem kleinen Kind, dort war also nichts zu machen. Rechts von Rebecca saßen zwei Frauen in den Sechzigern. Sie hatten sich schon in den Katalog der Waren vertieft, die an Bord angeboten wurden.
Synne beugte sich zu ihnen hinüber und fragte, sehr höflich, ob es wohl möglich sei, die Plätze zu tauschen. Die Damen verzogen verärgert den Mund und sagten, leider nein, sie verreisten zusammen und hätten diese Plätze zugewiesen bekommen. Und sie wollten sie auch behalten.
Noch ehe das Flugzeug die Türen geschlossen hatte, rief Synne per Knopfdruck eine Stewardess. Die kam sofort angerannt.
»Ich habe ein Problem«, setzte Synne an und zerbrach sich dabei verzweifelt den Kopf darüber, wie dieses Problem denn wohl aussehen könnte. »Ich leide unter entsetzlicher Flugangst.«
Sie flüsterte. Es war ihr peinlich, solche Lügen aufzutischen, aber die Stewardess glaubte zu verstehen, zwinkerte viel sagend und streichelte dann beruhigend Synnes Arm. Synne traten angesichts dieses unverdienten Mitgefühls Tränen in die Augen.
»Eigentlich kann ich damit umgehen«, sagte sie jetzt leise. »Aber vor allem beim Start und bei der Landung macht sie mir zu schaffen. Es wäre mir eine ungeheuer große Erleichterung, wenn ich neben meiner Freundin sitzen könnte.«
Sie zeigte auf Rebecca auf der anderen Seite des Mittelgangs. Die verdrehte die Augen.
Die Stewardess wusste, was sie zu tun hatte. Sie beugte sich über die beiden Damen und erklärte kurz – sehr freundlich, aber doch energisch –, dass eine von ihnen aus sicherheitstechnischen Gründen die Güte besitzen müsste, ihren Platz mit dem der jungen Dame zu tauschen.
Widerspruch war da nicht möglich. Sicherheitstechnische Gründe!
Auf diese Weise erschwindelte Synne sich nicht nur einen Platz neben ihrer Geliebten, nicht nur einen Fensterplatz, nein, die Lüge lieferte ihr auch noch einen legitimen Grund, während des gesamten Fluges Rebeccas Hand zu halten, offen und ehrlich und zur beruhigenden Anerkennung durch die Stewardess, wann immer die an ihnen vorbeikam.
Das Peinlichste war dann aber die Einladung ins Cockpit.
»Meistens hilft das«, sagte die uniformierte Frau, als sie darauf bestand, dass Synne sie begleitete. »Dann sehen Sie, wie tüchtig die sind.«
Auf diesem Flug durften drei Personen das Cockpit besuchen. Ein Junge von sieben, ein Mädchen von neun und Synne Nielsen, dreißigeinhalb.
23
Wir lügen die ganze Zeit. Jeden Tag. Viele Male. Und wenn ich »wir« sage, dann ist das kein Versuch, mich besser zu machen, indem ich mich mit dem Rest der Menschheit in einen Topf werfe. Es ist einfach eine klare Tatsache, etwas, dessen ich mir ganz sicher bin. Wir lügen über Bücher, die wir gelesen, über Filme, die wir gesehen haben, darüber, was und wen wir mögen. Über Orte, die wir besucht haben. Über uns selbst. Vermutlich muss das so sein. Ehrlichkeit kann fatale Folgen haben. Wenn sie absolut ist, meine ich. Als Kinder werden wir zur Wahrheit angehalten, aber wenn wir der Nachbarin sagen, dass ihr neues Auto eine schreckliche Farbe hat, werden wir gerügt. Die Lüge ist Trägerin allen menschlichen Lebens. Ich habe ein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut.
Petter (ich habe mich noch nicht so ganz daran gewöhnt, dass er Pierrot heißt) hält mich für eine Rennfahrerin. Er bildet sich ein, ich führe in den USA Indy-Car, und als Beweis habe ich ihm einen Artikel in der National Geographic gezeigt. Und wer steht da wohl in hellgrüner Fahrkluft mit dem Helm unter dem Arm, an ein rotes Auto gelehnt, wenn nicht ich? Nicht ganz ich, meine ich, aber doch eine Frau, die mir so ähnlich sieht, dass ich beim Anblick dieses Fotos wirklich gestutzt habe, und so kam ich auf die Idee zu dieser wilden Geschichte über mein Leben als umherschweifendes Tempophantom auf den zahlreichen und lebensgefährlichen Rennstrecken Amerikas.
Inzwischen finde ich das übrigens anstrengend. Immer wieder versuche ich, die Sache herunterzuspielen; ich sei ausgestiegen, sei niemals in der ersten Liga gefahren (gibt es bei diesem Sport überhaupt Ligen? wohl kaum!), es sei schon eine ziemliche Zeit her, und außerdem hätte ich mir den Rücken ruiniert und könne mich nie wieder hinter ein Lenkrad setzen. Aber es hilft alles nichts. Die eine Lüge frisst sich an der
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