Mea culpa
blau ab wie die Reklameschilder des Kinogebäudes, und zu hören war nur ein fernes, schwaches Stadtrauschen, dessen Ursprung sie sich nicht erklären konnten.
»Warum rauscht die Stadt, wenn niemand unterwegs ist? Keine Menschen, keine Autos. Woher kommt dieses Geräusch?«
»Vielleicht lebt die Stadt selbst«, antwortete Synne und drehte sich auf den Bauch.
Die Gesichter dicht, dicht beieinander, jedes in seine Richtung gewandt: Synne küsste Rebecca auf die Stirn, sie schmeckte kalt und nach Hautcreme.
»Vielleicht lebt eine Stadt ja wirklich? Vielleicht atmet sie, und das hören wir jetzt«, sagte sie und gab Rebecca noch einen Kuss.
»Ja, vielleicht. Nur wir können das hören.«
»Wir machen sonst so schrecklichen Krach, aber jetzt können alle, die das wollen, mit Oslo sprechen. Nur wollen sie das nicht. Sie liegen zu Hause und schlafen ihren Aquavitrausch aus.«
»Hallo, Oslo«, sagte Rebecca und klopfte neben sich auf den Schnee.
»Hallo, Oslo«, brüllte Synne und legte ihre Fäustlinge wie einen Lautsprecher vor ihren Mund. »Hörst du uns?«
In der Ferne zerriss ein Martinshorn die Nacht, und Rebecca fuhr auf.
Synne wälzte sich im Schnee und lachte.
»Er hat geantwortet! Zum Teufel, er hat geantwortet!«
Das Martinshorn wurde immer leiser, und Rebecca wurde wieder nach unten gezogen. Sie saßen auf der Kreuzung von Karl Johan und Roald Amundsens gate, mitten in Norwegens Hauptstadt, so zentral, wie das überhaupt nur möglich war, und sie waren durch die Stadt gewandert, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
»Er? Glaubst du, Oslo ist ein Mann?«
»Aber sicher«, erklärte Synne und zog Rebecca zwischen ihre Beine.
Sie blickten zum Schloss hinüber. Der Schnee bedeckte jetzt den ganzen Schlossplatz, eine weiße Decke, die fürsorglich und eifrig versuchte, auch Karl Johan selbst einzupacken, der stolz und trotzig auf seinem Ross thronte. Er wollte nichts davon wissen; nur über seinen Schultern und auf Mähne und Flanken des Pferdes hatte der Schnee sich niederlassen dürfen.
»Wie war es denn bei dir?«, fragte Rebecca, die beim Reden leicht nach Glühwein und Rosinen duftete; Synne hatte eine Thermosflasche bei sich.
»Schön. Heiligabend … nichts ist wie Heiligabend. Silje hatte alles so schön gemacht, wir waren zum ersten Mal alle bei ihnen.
Sie waren ein bisschen sauer, als ich gegangen bin. Oder vielleicht eher traurig.«
»Glaubst du, dass sie im Schloss sind?«
»Kaum«, sagte Synne. »Sind die zu Weihnachten nicht immer auf Kongsseteren? Oder … Es wäre doch traurig, in so einer Nacht in diesem riesigen Haus zu sein.«
»Es ist so schön«, flüsterte Rebecca und schmiegte sich noch enger an Synne. »Du kommst auf so viele seltsame Ideen.«
»Seltsam? Das ist doch ganz normal. Das mache ich jedes Jahr zu Weihnachten.«
»Dussel. Du machst das meinetwegen. Du bist doch sonst zu Weihnachten gar nicht in Oslo. Warum hat deine Schwester gerade in diesem Jahr die ganze Familie eingeladen?«
Synne lächelte ein wenig und zog Rebecca fester an sich.
»Was wäre denn aus dir geworden, nachdem die Kinder weg waren, wenn ich nicht in der Stadt gewesen wäre?«, flüsterte sie. »Silje ist toll. Sie hat alles begriffen, ohne dass ich viel zu sagen brauchte. Das ist … das ist Weihnachten.«
Motorgeräusche hinter ihnen veranlassten Synne, sich umzudrehen. Ohne darüber nachzudenken, hielt sie Rebecca fest, als diese aufstehen wollte. Der Pakistani im Maxi-Taxi starrte sie an, als er langsam vorüberfuhr; er schüttelte resigniert den Kopf und tippte sich an die Schläfe.
»Jetzt gehen wir nach Hause, Synne«, sagte Rebecca, als sie den roten Hecklichtern hinterherschauten, die sich dem Drammensvei näherten. »Jetzt gehen wir nach Hause und … essen was!«
»Ja«, sagte Synne und lief los, um die Tasche mit Thermoskanne und Pfefferkuchen zu holen, die verlassen und halb eingeschneit vor dem Haus Paleet lag. »Ich habe jede Menge kalte Schweinerippe!«
Rebecca sagte nie: »Zu dir nach Hause«.
31
Fast jeden Tag sehe ich einen Katamaran vorüberfahren. Er ist mit Touristen in allen Farben voll beladen. Manche sind weiß, manche sind rot oder rosa, andere ziemlich braun, aber niemand ist so dunkel wie die vier Männer in den tiefrosa Shorts und den weißen T -Shirts, die herumhüpfen, während die Touristen breitbeinig schwanken, falls sie überhaupt wagen, aufzustehen. Der Katamaran ist groß, schön und fast immer unter vollen Segeln. Er heißt Ocean Murmur.
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