Mea culpa
ungeöffnet da, und ich habe das Firmenlogo mit Tee bekleckert. Es ist der einzige Brief, den ich hier unten erhalten habe. Solange er ungeöffnet ist, birgt er eine Art Trost, auch wenn die Absenderangabe diesen Trost fast wieder zerstört.
Eine Stunde lang starre ich den Brief an. Dann öffne ich ihn.
Der Tee ist in den Umschlag eingezogen, und sein Name wird von einem hellbraunen, nierenförmigen Fleck eingerahmt. Er drückt sich freundlich aus. Er glaubt, dass er mich nicht unter Druck setzt. Es spielt keine Rolle, ob in diesem Jahr nichts mehr kommt, schreibt er enthusiastisch, darüber habe ich zu entscheiden. Aber mache ich denn überhaupt etwas? Er muss völlig blöde sein. Oder vielleicht arbeitet er schon zu lange mit Kindern, seine Sätze sind übertrieben kurz, die Wörter zu einfach, sie können nicht einmal das verbergen, was er wirklich zu sagen versucht: dass er ungeduldig ist. Ich hole mir ein Bier, obwohl es erst zehn Uhr morgens ist. Als ich den Brief fünfmal gelesen habe, reiße ich ihn in Stücke. In winzige Fetzen, und dann in noch kleinere; am Ende habe ich die Hand voll Konfetti, weshalb ich hinausschlendere und sie den Fischen hinwerfe. Die wollen sie nicht, obwohl sie immer angehuscht kommen, wie winzige Blitze, aber so nicht, finden sie, und schon sind sie wieder verschwunden.
Ich bin allein. Das war meine eigene Entscheidung. In den drei Monaten, die ich jetzt schon hier bin, habe ich nur mit zwei Menschen mehr als die alltäglichsten Worte gewechselt. Der eine ist Asha, die in meinem Bungalow putzt. Sie kann unmöglich mehr als vierzig Kilo wiegen und hat fast keine Zähne. Ihre Arme sehen aus wie dünne Bootstrossen und sind ebenso stark. Ihr dunkelbraunes Gesicht ist runzlig wie eine Rosine, und ich halte sie für einen guten Menschen. Natürlich kann ich von einer, die gegen Bezahlung meine Unterhosen wäscht, keine besondere Offenheit verlangen. Aber ab und zu mustert sie mich mit einem Blick, den ich immerhin als eine Art Verständnis deute.
Hervé, der Taxifahrer, der mich ab und zu fährt, wenn ich Vorräte besorgen muss, ist redseliger. Er kann mich sogar zum Lachen bringen. Auch er hat schon ein langes Leben hinter sich und amüsiert sich offenbar köstlich über diese Frau, die von irgendwo aus der Nähe des Nordpols stammt, auch wenn ich inzwischen fast so braun bin wie er.
Aber weder Asha noch Hervé sind bei mir, wenn die Dunkelheit über mich hereinbricht. Und sie könnten mir wohl auch nicht helfen.
6
Als Synne Nielsen in die fünfte Klasse ging, bekam sie einen eigenen Schlüssel für das Schulgebäude. Der Klassenlehrer war zuständig für die Schulbücherei, die fast nur von Synne benutzt wurde, obwohl mehr als tausend Schülerinnen und Schüler diese Schule besuchten. Die Bücherei lag oben in dem riesigen alten Holzhaus und roch nach Moder. Das taten auch die Bücher. Synne mochte den Geruch, er war feucht, klamm und beruhigend, und sie fand es wunderbar, allein vor einem riesigen Eichentisch zu sitzen, auf dem ganze Jahrgänge der Kinderzeitschrift Magne Platz hatten (auf diese Weise konnte sie die Fortsetzungsgeschichten am Stück lesen, statt bis zum nächsten Monat warten zu müssen), während die Schule fast leer war, aber es doch noch lange bis zum Essen dauerte. Familie Nielsen aß zwei Stunden später als alle anderen, denn sie hatten in Paris gewohnt, wo der Vater studiert und die Mutter Synne und deren drei Jahre jüngere Schwester zur Welt gebracht hatte.
Die Bücherei lag immer im Halbdunkel, doch eine große Lampe über dem Eichentisch malte einen Lichtkreis, in dem sie sich verstecken konnte. Die Bücher sahen fast alle gleich aus, sie steckten in steifen roten, blauen oder grünen Umschlägen, und der Rücken war in Gold beschrieben. In den Büchern klebte vorn oft ein schönes Bild, das noch einmal den Titel und den Namen von Autorin oder Autor aufwies, auf glänzendem, blankem Papier. Synne hatte entdeckt, dass dieses Bild in anderen Büchern auf der hinteren Umschlagseite saß, auf dem Umschlag, den die Mutter Schutzumschlag nannte und der zu Hause nicht vom Buch entfernt werden durfte, denn die Bücher könnten schmutzig werden, und die Mutter hatte es inzwischen aufgegeben, zu verlangen, dass Synne beim Essen ihr Buch beiseite legte. Die Bücher aus der Bücherei wurden außen nicht schmutzig, sie wiesen alles ab, sogar Marmelade. Aber drinnen hatten einige große, hellbraune Flecken, und außerdem hatte Synne einige Male winzige Käfer
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