Meade Glenn
er konnte in dem Haus nicht mehr leben, weil ihn die Erinnerungen an die wunderschöne gemeinsame Zeit quälten. Mitunter beschlich ihn das Gefühl, überhaupt keinen Neuanfang geschafft zu haben. Die Vergangenheit hielt ihn noch immer gefangen. Die Träume kehrten immer wieder, und die schwere Last der Erinnerungen betrübte ihn. Obwohl er sich bemühte, sie zu vergessen, wurden sie immer wieder lebendig. Und er wusste, warum. Sie waren alles, was er hatte. Ihm war nichts als die Erinnerung an ihr gemeinsames Leben geblieben, das Leben, das er mit seiner Frau und seinem Sohn geteilt und mit ihnen verloren hatte.
Die Sonne schien in die Küche, in der wie immer das Chaos ausgebrochen war. Das Kochen gehörte nicht gerade zu Collins’
Lieblingsbeschäftigungen, und man konnte ihn auch nicht als Meisterkoch bezeichnen. Er kochte nur, weil er etwas essen musste. Lange Zeit nach Annies Tod hatte ihn selbst das Essen vor eine große Herausforderung gestellt. Er musste mit zwei schweren Verlusten fertig werden und verspürte selten richtigen Appetit. Meistens ernährte er sich von Fast Food, um überhaupt etwas zu essen. In dieser Zeit nahm er dreißig Pfund ab, und dabei war es bis heute geblieben. Jetzt machte es ihm richtig Spaß, ab und zu für Nikki und Daniel zu kochen. Der Toast sprang heraus. Er trank seinen Kaffee aus und rührte das Ei noch einmal um. Als es fertig war, schob er es auf einen Teller, strich Butter auf den Toast und schnitt die Rinde ab. Das war notwendig, denn sonst schimpfte Daniel wie ein Rohrspatz. »Da, Cowboy.«
»Isst du kein Ei, Jack?«
»Heute nicht, Daniel.«
»Warum?«
»Es ist nicht gut, zu oft Eier zu essen. Darum versuche ich, nicht zu viele Eier zu essen.«
»Oh.« Daniel kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, während er angestrengt darüber nachdachte. Kurz darauf entspannte er sich wieder und aß weiter. Offenbar strengte ihn das Nachdenken zu sehr an.
Als Collins leises Lachen vernahm, drehte er sich um. Nikki lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen. Ihr Haar war im Nacken zusammengebunden, wodurch ihr ovales Gesicht gut zur Geltung kam. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie trug einen hellgrauen Pullover unter einer dunklen Lederjacke, eine dunkle Stoffhose und schwarze Stiefeletten. Außer kleinen Diamant-Ohrringen trug sie keinen Schmuck. Sie war nicht besonders groß, hatte aber eine gut proportionierte, athletische Figur. Trotz ihrer eher unscheinbaren äußeren Erscheinung war sie eine beeindruckende, aufgeschlossene Persönlichkeit mit einem jugendlichen Flair. Nikki Dean war sechsunddreißig Jahre alt, geschieden, berufstätig und Mutter eines lebhaften dreijährigen Sohnes, gegen den sie sich behaupten musste.
Zudem hatte sie einen anstrengenden Job als Journalistin bei der Washington Post. »Kommt ihr klar, Jungs?«
»Ja, alles in Ordnung.«
»Ich habe euer Gespräch über die Eier mitgehört. Da hast du ja noch mal Glück gehabt. Sei froh, dass du keinen detaillierten medizinischen Vortrag darüber halten musstest, warum das Eigelb den Cholesterinspiegel erhöhen und die Gefäße verengen kann. Daniel ist ein Journalistensohn. Das solltest du nicht vergessen. Meistens will er alles ganz genau wissen.«
»Stimmt, da könntest du Recht haben.« Collins lächelte.
Nikki fing an zu lachen und betrat die Küche. »Er hat zu Hause schon ein Muffin und Cornflakes gegessen und Orangensaft getrunken.«
»Sei froh. Manche Kinder muss man zum Essen zwingen. Mit Sean hatten wir in den ersten Jahren ständig Probleme. Er wollte immer nur Bonbons und Plätzchen essen.«
»Das kann dir bei Daniel nicht passieren. Der Junge frisst mir noch die Haare vom Kopf.« Sie stellte sich neben ihn und rieb ihm zärtlich über den Rücken. »Konntest du nach deinem nächtlichen Anruf noch lange genug schlafen?«
»Fünf Stunden.«
Collins war nach dem Job in der Union Station um 4.30 Uhr nach Hause gekommen. Er hatte Nikki von dem Anruf erzählt, ihr aber nicht den Grund verraten. Das waren FBI-Angelegenheiten, und sie sprachen selten, wenn überhaupt über seinen Job. Collins war noch immer kein bisschen schlauer, und es wurmte ihn, dass Murphy ihm nicht gesagt hatte, was los war.
Je länger er darüber nachdachte, desto seltsamer erschien ihm die ganze Sache. Was lag in dem Schließfach? Wenn es eine Bombe gewesen wäre, hätten alle TV-Sender heute Morgen darüber berichtet, aber das war nicht der Fall.
Einen Augenblick hatte er mit dem Gedanken
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