Meade Glenn
Krieg.«
»Wie können Sie das so genau wissen?«
»Joe, ich bin in Berlin geboren. Mein Vater auch. Der Sicherheitsdienst und die SS haben Leute in den Grunewald verschleppt und sie mit Genickschuß ermordet. Kommunisten, Sozialisten, Juden. Leute, die sie nicht erst umständlich in ein Lager oder ein Gefängnis schicken wollten. Sie haben sie einfach in die Wälder geschleppt und abgeknallt.« Er dachte einen Moment nach, als ihm die Ironie der Situation aufging.
»Genauso wie wir es mit Felder gemacht haben. Nur, daß die Opfer der Nazis nicht so waren wie dieser Sauhund, sondern meistens ganz gewöhnliche Menschen.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Von den Leichen? Mein Vater war in Flossenbürg.«
Volkmann sah ihn an. »Er war Jude?«
»Nein, Sozialist. Er hat sich bis ’44 verstecken können. Dann hat der SD eines Nachts eine Razzia in dem Haus veranstaltet, in dem er sich versteckt hat. Sie haben ihn mitgenommen, genauso wie die Leute, die ihn versteckt hielten. Meinen Onkel, seine Frau und die beiden Jungen haben sie in den Grunewald verschleppt. Meinen Vater haben sie in ein Lager gesteckt. Erst nach Ravensbrück, dann nach Flossenbürg.«
»Ist Ihr Vater dort gestorben?«
Molke schüttelte den Kopf. »Er hat überlebt. Bis zu seinem Tod vor fünf Jahren hat er in Hamburg in einem Seniorenheim gelebt. Ich glaube, Berlin barg zu viele Erinnerungen für ihn.«
Molke blickte wieder aus dem Fenster, auf den Frühlingsmorgen und den Verkehr.
»Als er nach dem Krieg nach Hause kam, war er vollkommen verwirrt. Nichts war ihm mehr wichtig. In Flossenbürg haben sie ihn fertiggemacht. Er war nie wieder derselbe. Meine Mutter hat sich von ihm scheiden lassen. Sie meinte, sie könne nicht mit einem Gespenst zusammenleben. Das war er, ein Gespenst.«
Molkes Gesicht verriet seine Trauer, als er weitersprach.
»Wissen Sie, was das Merkwürdige war? An dem Tag, an dem er gestorben ist, hat ein alter SS-Wärter aus Flossenbürg in München vor Gericht gestanden. Fünfzehn Jahre hatte es gedauert, bis sie diesen Hundesohn endlich vor Gericht zerren konnten. Weil er einen guten Anwalt hatte, ist es ihm gelungen, den Prozeß mit allen Tricks und Finessen so lange herauszu-zögern. Der Kerl muß mindestens achtzig gewesen sein, aber damals hat er mit bloßen Händen Menschen umgebracht. Das Gericht hatte Mitleid mit ihm, weil er so alt war und kurz vorm Sterben stand. Sie verurteilten ihn zu einem Jahr auf Bewährung.«
Molke knirschte mit den Zähnen. »Eine Woche später habe ich meinen Vater begraben und sehe am gleichen Tag in der
›Morgenpost‹ ein Bild von diesem alten SS-Schergen. Er kam aus dem Gerichtssaal, grinste und winkte seiner Familie und seinen Freunden zu. Er sah nicht aus, als müßte er bald sterben. Und ich, ich hätte ihm am liebsten eine Kugel durch den Kopf gejagt.
Wissen Sie, was sein Anwalt sagte? ›Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan.‹« Molke schüttelte den Kopf. »Je länger ich in dieser Welt lebe, desto klarer wird mir, daß es so etwas wie Gerechtigkeit nicht gibt. Nicht wirklich. Es gibt ein altes Sprich-wort: Jede Sünde hat ihren eigenen Racheengel. Aber so kommt es doch nicht. Wissen Sie, was ich meine?« Molke zögerte und sah Volkmann an. »Was ist mit Ihrem Vater? Lebt er noch, Joe?«
»Ja.«
»Besuchen Sie ihn oft?«
Volkmann blickte zur Seite. Er hätte Molke gern alles erzählt, aber das war nicht der richtige Ort und nicht der richtige Zeitpunkt. Später vielleicht.
»Sicher.«
»Dann haben Sie Glück, Joe. Söhne brauchen Väter genau so sehr wie Väter ihre Söhne.«
22. KAPITEL
Für die Fahrt von Frankfurt nach Hamburg brauchte Volkmann fast den ganzen nächsten Tag.
Um zehn Uhr war er von Erikas Wohnung aufgebrochen, nachdem er ihr geholfen hatte, ihr Gepäck in ihren weißen Golf zu laden. Dann war sie nach Straßburg gefahren.
Es war klar und frisch. Volkmann nahm die Autobahn nach Kassel und dann nach Hannover, danach ging es an der Lüneburger Heide vorbei. Gegen fünf Uhr nachmittags überquerte er die Elbe und fuhr weiter nach Westen, Richtung Hamburg-Neustadt, bis er zu dem hell erleuchteten Band der Reeperbahn kam. Das Zentrum von Hamburg erstrahlte in seiner Weihnachtsbeleuchtung, und St. Paulis berühmter Rotlichtbezirk gleißte von Neonröhren und war überfüllt mit Gästen.
Volkmann fand den Club Baron an der Holstenstraße, parkte seinen Ford in einer Nebenstraße und ging zu Fuß zurück.
Es war erst sechs Uhr und Sonntag
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