Meade Glenn
und hat einigen heftig auf den Schädel gehauen, mehr nicht. Aber angeblich soll heute abend eine weitere Protestkundgebung auf dem Hofgarten stattfinden.
Ein Protestmarsch von ›Einwanderern‹.« Ritter bleckte die Zähne. »Wenn Sie mich fragen, gehören diese Demonstranten alle eingelocht.«
Die Sache gerät allmählich außer Kontrolle, dachte Döllmann, während der Mercedes in die Oxfordstraße einbog. Überall noch mehr zerstörte Ladenfronten – der Buchladen neben dem Amtsgericht ebenso wie die Musikalienhandlung daneben … die Schaufensterscheiben mit herausgerissenen Pflastersteinen eingeworfen. Der Wagen passierte den Bertha-von-Suttner-Platz und bog auf die Adenauerallee ab.
Döllmann machte sich nicht die Mühe, auf Ritters Bemerkung zu antworten. Der Mann war ein hervorragender Leibwächter, hart, diskret und zuverlässig, aber er verfügte nur über recht begrenzte Intelligenz, so daß Döllmann Gespräche stets auf das Nötigste beschränkte. Wäre es nach Ritter gegangen, säße die halbe Welt hinter Gittern.
Heutzutage war es überall das gleiche: Aufstände, Märsche, Proteste, Probleme mit Ausländern und Ausländergegnern. Der französische Innenminister hatte sich erst letzte Woche bei ihm über dieselbe Lage beklagt.
»Einsperren und den Schlüssel runterspülen«, fuhr Ritter fort, der seinen Gedankengang offenbar noch nicht abgeschlossen hatte. »Das ist die richtige Antwort.«
Wenn es nur möglich wäre, dachte Döllmann unwillkürlich. Er persönlich hätte sofort mit der Hälfte seines zänkischen Kabinetts angefangen.
Der Dienst-Mercedes war in den Hof des Palais Schaumburg eingebogen und hatte vor dem beeindruckenden Portal angehalten. Seine Frau war sicher irgendwo in der Residenz. Ihm bliebe gerade genug Zeit, um sie nach der Kabinettssitzung zu begrüßen, dann mußte er nach Berlin ins Schloß Charlottenburg.
Noch eine langweilige Verpflichtung, dachte er, und dann Webers Sondersicherheitssitzung morgen früh. Trotzdem paßte Webers Anliegen ihm hervorragend in den Kram. Er würde die Nacht am Wannsee verbringen, und wenigstens darauf konnte Döllmann sich freuen. Der Gedanke hob kurzfristig seine Laune, während der Chauffeur rasch ausstieg und ihm die Tür öffnete. Döllmann sammelte seine Unterlagen ein, steckte sie in die Aktentasche, schloß sie und reichte sie Ritter.
Als der Kanzler ausstieg, wartete schon Eckart, der Finanzminister, an der Tür, um ihn zu begrüßen. Der Mann wirkte genauso finster und deprimierend wie der düstere Himmel über Bonn. Zweifellos hatte er noch mehr niederschmetternde Neuigkeiten auf Lager, die Staatsfinanzen betreffend. Die wollte er wohl loswerden, bevor die Sitzung anfing.
Döllmann seufzte und schritt grimmig zum Eingang des Palais.
Die Sitzung dauerte nun schon fast zwei Stunden.
Und es geht um das gleiche wie immer, dachte Döllmann, während er die erschöpften Gesichter der Männer betrachtete, die an dem großen, ovalen Tisch saßen.
Am Vorabend hatte es in Berlin, München, Bonn und Frankfurt heftige Demonstrationen gegeben, sogar in Döllmanns heißgeliebtem Mannheim. Die neuesten Finanzberichte waren niederschmetternd. Eckart hatte die Hände vor Verzweiflung in der Luft gerungen, als er die Einzelheiten verkündete.
Döllmann zog ein frisches Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn ab. Es war heiß im Sitzungssaal. Die Heizung versuchte, gegen die Kälte von draußen anzukommen. Hinter den kugelsicheren Scheiben trieb ein rauher Wind mit den Baumwipfeln Schabernack.
Döllmann hatte sein graues Haar aus seinem fleischigen Gesicht nach hinten gekämmt. Er war groß, gutaussehend, Anfang Sechzig und seit achtzehn Monaten Kanzler. Achtzehn harte, schwierige, aufreibende Monate. Liebend gern wäre er zurückgetreten, ja, er hatte diesen Schritt sogar schon bei mindestens zwei Gelegenheiten ernstlich erwogen, aber er wußte, daß er der einzige hier in dem Raum war, der in diesen harten Zeiten auch nur annähernd den Anschein einer Führungspersönlichkeit vorspiegeln konnte.
Jetzt blickte er von Berichten hoch, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und schob das Taschentuch wieder in die Brusttasche zurück. Alle Minister waren da bis auf Weber, sein Vizekanzler.
Der wurde später erwartet. Neue Unruhen in Leipzig hatten seine Anwesenheit nötig gemacht. Döllmann beneidete seinen Stellvertreter nicht. Weber hatte den Posten haben wollen, und sein Charakter befähigte ihn auch dafür. Er verstand keinen Spaß, aber
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