Meade Glenn
Stunde über das Band gesprochen, es immer und immer wieder abgespielt, aber nichts darauf hatte sie auch nur im geringsten weitergebracht. Es gab nichts Konkretes, und nichts stieß ihnen die Tür auf.
Volkmann versuchte sich noch einmal auf das Band zu konzentrieren. Es gab drei verschiedene Sprecher, soviel hatte er herausgefunden, während er auf ihren Ton, die Worte und das Timbre in ihren Stimmen geachtet hatte.
» Und Ihre Reisevorbereitungen? Ist alles organisiert? «
» Wir verlassen Paraguay am Sechsten. «
Am sechsten. Das war heute.
Volkmann hatte Sanchez gebeten, das Band zu diesen Sätzen zurückzuspulen. Er lauschte erneut der schwachen Stimme. Es war derselbe Mann, der gesagt hatte: » Wir müssen Sie jetzt verlassen. Es ist eine lange Reise zurück in den Norden … «
Norden, was bedeutete Norden? Er und Sanchez hatten auch darüber diskutiert. Norden bedeutete in Paraguay ein riesiges Areal aus Dschungel, Sumpf und Dickicht, den Chaco. Sanchez hatte ihnen die Gegend auf der nikotingelben Karte an der Wand gezeigt.
Norden konnte aber auch bedeuten: über die Grenze – nach Brasilien oder Bolivien. Oder auch nur eine Vorstadt. Irgendein Barrio.
Volkmann sah Sanchez an. »Erzählen Sie mir noch einmal alles, was Sie über diesen alten Mann wissen, diesen Tscharkin, und seinen Selbstmord.«
Sanchez hatte einen Ordner geöffnet auf dem Schreibtisch liegen. Dabei handelte es sich um die Akte des alten Mannes, den Bericht des Gerichtsmediziners und den Brief des Onkologen aus der Privatklinik San Ignatio. Sanchez hatte den Inhalt der Akte bereits für Volkmann und die junge Frau zusammengefaßt und blickte wieder auf die Papiere.
»Im Moment weiß ich nur, was ich letzte Woche in den Bericht über den Selbstmord geschrieben habe. Tscharkin war zweiundachtzig, ein Geschäftsmann, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und seit zwanzig Jahren ein naturalisierter Bürger dieses Landes war. Ehemaliger Direktor verschiedener Gesellschaften.
Am dreiundzwanzigsten November haben die behandelnden Ärzte im San Ignatio ihm weniger als achtundvierzig Stunden zu leben gegeben. Er litt an Magenkrebs, und die Blutungen waren sehr stark geworden. Die Ärzte aus dem Krankenhaus zeigten sich nicht überrascht zu erfahren, daß der alte Mann Selbstmord begangen habe. Er hatte Schmerzen und war sehr schwach, trotz der Medikamente, die ihm helfen sollten.«
»Sind Sie denn sicher, daß es wirklich ein Selbstmord war?«
Sanchez nickte. Er gähnte und hielt sich die fleischige Hand vor den Mund. Dann blinzelte er mehrmals. »Das steht außer Frage. Zum Zeitpunkt seines Todes war er allein im Raum. Und in Anbetracht seiner angegriffenen Gesundheit erschien es wenig sinnvoll, der Angelegenheit weiter nachzugehen. Das ist jetzt natürlich etwas anderes. Ich habe meine Männer angewiesen, mehr über diesen Señor Nikolas Tscharkin herauszufinden. Ich werde die betreffenden Akten einsehen, sobald die Einwanderungsbehörde morgen früh ihre Pforten öffnet. Meine Leute überprüfen außerdem Tscharkins Haus, um zu sehen, ob er vielleicht doch einige Unterlagen aufgehoben hat. Etwas, das uns weiterhelfen könnte.«
Volkmann sah den müden Kriminalen an. »Sie sagten, daß der Safe im Arbeitszimmer offenstand, als Sie die Leiche gefunden haben. Und daß auf dem Kaminrost Aschenreste lagen.«
» Sí. Aber das geschieht manchmal, wenn Menschen sich selbst töten. Sie vernichten ihre Privatkorrespondenz und persönliche Andenken.« Sanchez zuckte mit den Schultern. »Vor allem, wenn sie etwas zu verbergen hatten. Im Fall Tscharkin wissen wir jetzt, daß dies höchstwahrscheinlich auf ihn zutraf.«
Sanchez überlegte kurz, bevor er weitersprach. »Als Rudi in Tscharkins Haus angekommen ist, wirkte er ein bißchen beunruhigt. Der alte Mann schien ihn zu interessieren, aber er versuchte das vor mir zu verbergen, glaube ich. Ach, noch etwas: Ich habe das Arbeitszimmer für einige Minuten verlassen, um dafür zu sorgen, daß der alte Mann in die Leichenhalle abtransportiert wurde. Als ich zurückkam, legte Rudi gerade den Hörer auf. Er hat behauptet, es wäre ein Anruf aus seinem Büro gewesen. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr.
Meine Leute überprüfen auch das bereits. Außerdem jeden Anruf, der in letzter Zeit aus Tscharkins Haus gemacht wurde.«
Draußen war es noch dunkel. Sanchez konnte kaum die Augen offenhalten, und das Rauchen half ihm, wach zu bleiben. Er hätte eigentlich um fünf Uhr nachmittags Feierabend gehabt,
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