Mecklenburg-Vorpommern. Anleitung für Ausspanner
schmalen Flussläufe und Kanäle sind
aus der Perspektive des Kanuten einfach unschlagbar. Dem Nationalpark sei Dank, darf man bei den schönsten Seen die Ufer weder betreten noch ein Zelt
darauf aufstellen. Versucht man es doch, brechen Wildschützer in Khakihosen aus dem Unterholz und vertreiben die Camper.
DIE KLEINE SCHWESTER –
HIDDENSEE
»… Nackt im Sande purzeln Menschen, selig töricht …
Gar kein Schutzmann kommt gesprungen.
Doch im Bernstein träumen
Fliegen.« (Ringelnatz)
Rockbands und Kinder über zehn Jahre haben eines gemeinsam: Obwohl innig geliebt, schaffen sie es nur noch selten auf die Heckklappe
eines deutschen Mittelklassewagens. Pflichtschuldig wird vielleicht noch die Webadresse des Arbeitgebers auf den dunklen Metallic-Lack geklebt. Jedoch
freiwillig und mit der ganzen Hingabe eines Fans streichelt der Deutsche einzig die Silhouette »seiner« Lieblingsinsel auf die teure Karosse. Ganz vorn
liegen Sylt, Rügen und die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, dicht gefolgt von Usedom und Hiddensee. Menschen jenseits der 35 lassen vor der morgendlichen
Fahrt zur Arbeit im Vorübergehen die Finger über den Aufkleber gleiten und seufzen sehnsüchtig, während sie sanft die Heckklappe in das Schloss einrasten
lassen. Inseln. Wie schaffen die das nur?
Eine davon ist Hiddensee – die kleine bezaubernde Schwester Rügens. Etwas mehr als hundert Jahre ist es her, da mussten Besucher Hiddensees vom
Fährschiffzunächst in ein Ruderboot steigen, das sie ans flache Ufer brachte. Die Männer hatten auszusteigen und mit hochgekrempelten
Hosen durch das Wasser an Land zu waten. Frauen wurden je nach Aussehen, Alter und Gewicht vom Fährmann dorthin getragen. Heute hat sich die Anreise
erleichtert und Hiddensee wird jährlich von ungefähr 60 000 Urlaubern und über 400 000 Tagesgästen besucht.
Wahrscheinlich liegt es an der doch überschaubaren Größe der Insel, dass die meisten Gäste nur Tagestouristen sind, die sich von Schaprode, Stralsund
oder Zingst übersetzen lassen. Dabei ist es genau diese Winzigkeit, die den besonderen Reiz ausmacht und die der gehetzte Großstädter zum längeren
Verweilen nutzen sollte. Denn auf gerade einmal 19 Quadratkilometern finden Sie herrliche Sandstrände, grüne Deiche, leuchtende Dünen und steile
Klippen. Die Kraniche, die zu Zehntausenden aus Skandinavien und dem Baltikum im Herbst über die Insel ziehen und zusammen mit Wildgänsen im flachen
Wasser der Umgebung rasten, sehen das Eiland aus der Luft wie ein Seepferdchen. Mit langem Schwanz gen Süden Richtung Stralsund gestreckt, blickt es bei
leicht geöffnetem Maul auf das große Rügen. 17 Kilometer lang und am Bauch gerade einmal 3 Kilometer breit. Knapp 1 300 Einwohner leben in den vier Orten
Grieben, Kloster, Vitte und Neuendorf. Die eher spröden Insulaner sind wie der klischeehafte Extrakt eines Norddeutschen: einfache, hart arbeitende
Menschen, mit trockenem Humor, die modernen Dingen eher abgeneigt, dem Alkohol dafür aber zugetan sind.
Der Name Hiddensee stammt von »Hedinsey« beziehungsweise»Hedins-Oe« und bedeutet soviel wie »Inseldes Hedin«, erinnert also an den
legendären Norwegerkönig, der hier um Frau und Gold gekämpft haben soll. Dass es sich bei Hiddensee tatsächlich um eine Insel und nicht bloß um ein
reizendes Anhängsel Rügens handelt, ist einer Sturmflut zu Beginn des 14. Jahrhunderts zu verdanken. Aus heutiger und rein touristischer Sicht war sie
sicherlich ein wahrer Glücksfall – welchem Zipfel Land wird schon so viel Aufmerksamkeit zuteil, wenn er nicht ganz für sich allein steht.
Als ich in Vitte einmal mit einem jungen Paar aus Köln vor einem der vielen schilfgedeckten Fischerkaten ins Gespräch kam, fragten sie
mich, was es hier für Sehenswürdigkeiten gäbe und welche Orte man sich in Mecklenburg-Vorpommern noch alle so ansehen müsste. Sie wären gerade angekommen
und wollten sich während eines verlängerten Wochenendes zwar erholen, aber noch dies und jenes in MV besichtigen. Ein echter Insulaner hätte ihnen
vielleicht geantwortet, dass Berlin und Dresden recht schön sein sollen und dann das Gespräch beendet. Im Hintergrund rauschte die mächtige Brandung der
Ostsee, um uns herum lagen weite Salzwiesen, mooriges Reetdickicht, Heide, hügelige Wiesen, auf denen sich Pferde grüne Halme zupften, dazu die klare
salzige Luft und im Norden ein Leuchtturm, von dem aus am Horizont die Kreidefelsen der
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