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Mecklenburger Winter

Mecklenburger Winter

Titel: Mecklenburger Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris P. Rolls
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egal, welcher. Neben Leon zu sitzen, machte all sein Glück aus. Gerne hätte er ihn an sich gezogen, den Arm um seine Schultern gelegt, jenen Moment zum Leben erweckt, den sie miteinander geteilt hatte. Vergangen, wie ein Traum, und er konnte nur hoffen, dass es für sie einen weiteren geben würde.
    Unmerklich rutschte er auf dem Sofa näher an Leon heran. Dieser reagierte nicht, schaute unverwandt auf den Bildschirm, doch seine Finger spielten nervös. Als Kais Schulter seine berührte, wandte er den Kopf. Die graugrünen Augen wirkten unsicher, hilflos und resignierend. Zögernd hob er die rechte Hand, bewegte sie in Zeitlupe höher und Kai hielt unwillkürlich den Atem an. Millimeter vor seinem Gesicht verharrte Leons Hand. Kai sah die Finger aus dem Augenwinkel zittern. Leons Lippen bebten. Abrupt ließ er die Hand zurück in seinen Schoß fallen. Scharf zog Kai die Luft ein.
    „Kai … ich kann nicht ...“, flüsterte Leon verzweifelt. „Ich … ich kann nicht schwul sein.“ Er rückte nicht von ihm ab, im Gegenteil, er drückte sich eher gegen diesen. Schulter an Schulter. Ganz nah. So nah, dass sie sich gegenseitig spüren, fühlen, erahnen konnten. Teilten Wärme miteinander. Für den Moment. „Verstehst du? Ich kann nicht. Das geht einfach nicht.“ Schmerzerfüllt starrte Leon Kai an, dessen Herz sich auf einem Bungeesprung in ungeahnte Tiefen befand. Kai war ganz sicher, dass das Sicherheitsseil vergessen worden war.
    Alles in ihm sträubte sich zwar dagegen, hielt kistenweise Argumente, Proteste parat. Und doch wusste er genau, was in Leon vor sich ging.
    Noch leiser fügte dieser hinzu: „Mein Vater würde mich umbringen und in der Schule gäbe es nur noch mehr Probleme.“ Flehend blickte er Kai an. Hoffnungslos, zutiefst verzweifelt. „Es geht einfach nicht“, flüsterte er.
    Kais Hand fand seinen Nacken, zog ihn an sich, presste ihn an seine Brust, wie in der letzten Nacht. Abermals kam kein Ton von Leon. Kai war nicht sicher, ob er erneut weinte. Es war egal, denn ihm selbst liefen Tränen über die Wangen.
    Er verstand. Und dennoch konnte er Leon nicht helfen. Dies war sein Weg. Leon musste sein Ziel erreichen. Mit oder ohne Kai an seiner Seite.

 
27 Stufenweise Erwärmung
     
    Es taute.
    Der Schnee war mit glitzernden Wassertröpfchen garniert, die in der Sonne wie Diamantenstaub glitzerten, eine Schönheit vortäuschten, unter der sich allerdings nichts weiter, als das schmutzige Grau versteckte. All die langen Wintermonate hatte sich die Landschaft in ein strahlend weißes Gewand gehüllt. Nun, gegen Ende des Winters, war es dreckig und abgenutzt, wie viel zu lange getragene Kleidung es nun mal ist. Durch den kalten, fadenscheinig gewordenen Stoff blitzte überall die spröde, dunkle Haut der Mecklenburger Erde hindurch. An den Straßenrändern türmten sich vergängliche Schneeberge, deren Tauwasser schmutzige Pfützen auf dem Asphalt hinterließen. Gegen Abend würde der einsetzende Frost diese Flächen wieder in gefährliche Eisbahnen verwandeln.
    Dies war der einzige Grund, warum Kai froh war, Leon am frühen Nachmittag heimfahren zu dürfen. Es gab keinen anderen Grund zur Freude.
    Leon hatte sich bestimmt zehn lange, wundervolle Minuten lang an Kais Brust pressen lassen, diese Zeit nutzte Kai, um die verdächtig feuchten Spuren zu entfernen und seinen engen Hals wieder zum Sprechen zu benutzen. Worte hatte er kaum gefunden, sein Gehirn schien durch Leons simples: „Ich kann nicht schwul sein“ jeder Fähigkeit zum Denken beraubt worden zu sein.
    „Niemand braucht etwas zu erfahren“, hatte Kai beruhigend geflüstert, sich selbst dafür geohrfeigt, denn er wusste haargenau, dass dies kaum der richtige Weg sein konnte. Sich ständig zu verbergen, verleugnen, wie man empfand, wie lange mochte das gut gehen? Einen Monat? Zwei? Bis Leon volljährig ist, flehte Kais Inneres. Die Rudimente seines Verstandes wussten, dass er damit noch längst nicht aus dem Einflussbereich seines Vaters war. Oder der Schule. Leon war ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsenen, aber eben noch keiner, der auf eigenen Füßen stehen konnte. Selbst wenn Kai ihm dabei helfen wollte.
    „Was soll ich denn tun?“, hatte Leon ihn gefragt, die Stimme verzweifelt, doch er hatte tatsächlich nicht geweint. Im Gegensatz zu mir Weichei, warf sich Kai vor. „Nichts. Nichts musst du tun. Es läuft alles wie bisher, Leon. Wir sind Freunde. Gute Freunde.“ Niemand muss erfahren, dass ich mehr für dich

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