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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erstehen lassen, das es auf dieser Erde niemals und nirgends gegeben hat. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre, schrie ich Lyssa an. Du siehst nur, was du sehen willst, gab sie zurück, nur diese paar verknöcherten Alten, die sich vor lauter Kummer und Heimweh und vor Empörung über die Behandlung, die sie durch die Korinther erfahren, ihre Traumwelt zurechtgezimmert haben. Aber leicht hätte ich es mir ja schon immer gemacht, wagte diese Frau mir zu sagen, immer schon hätte ich mir ein Bild von anderen und besonders von mir selbst zurechtgebastelt, wie ich es brauchte und wie ich es ertragen könnte. Ich war außer mir. Ich? habe ich zurückgeschrien. Ich? Und ihre unfehlbare Medea? Die sich nur noch mit ihren Verehrern umgebe? Niemanden sonst an sich heranlasse? Da ist Lyssa still geworden. Du bist ja verrückt, hat sie gesagt. Du glaubst ja, was du sagst. Du willst sie ja wirklich vernichten.
    Ja. Das will ich. Der Tag, an dem es geschieht, wird mein glücklichster Tag sein.
    Lyssa die Kuh, so nennt Presbon sie. Die dazu gemacht ist zu säugen, zuerst ihre eigene Tochter Arinna, dann hat sie auch noch die beiden Söhne der Medea an die Brust genommen, hat, was sie konnte, dazu beigetragen, daß dieser Frau alles zu glücken schien. Daß sie dasaß wie in einer Festung aus Glück. Ihren wilden Haarbusch hat sie durch die Stadt getragen wie einBanner. Aber die Zeiten sind vorbei. Jetzt bindet sie ein Tuch um das Haar, wenn sie, selten genug, zum Palast geht. Jason verleugnet sie öffentlich und schleicht sich heimlich zu ihr. O ja, ich weiß Bescheid. Ich stand vor Lyssa und höhnte, Medea brauche niemanden zu ihrer Vernichtung, die besorge sie selbst, und zwar gründlich. Da packte sie mich an der Schulter und schüttelte mich, sie hat, das muß ich Presbon sagen, überhaupt keine Kuhaugen, wenn sie zornig ist. Ich solle mit meinen dunklen Andeutungen aufhören, schrie sie. Gerade noch rechtzeitig fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich innehalten sollte. Ich streifte Lyssas Hand ab und ging.
    Alles war entschieden. Ich war bereit. Presbon erwartete mich. Wir mußten zu Akamas gehen. Unsere Wünsche sollten Gestalt annehmen.
    Falls wir gedacht hatten, wir wären dem Akamas willkommen, hatten wir uns gründlich geirrt. Akamas ließ uns warten. Er sei beschäftigt. Ich, schnell verletzt, wollte gehen, Presbon hielt mich fest. Wir seien es unseren Gastgebern schuldig, sie etwas wissen zu lassen, was ihr Gemeinwesen gefährde. Presbon ist ein Mensch mit der Begabung, sich selbst zu belügen. Er kennt für sein Tun und Lassen keine anderen als die edelsten Motive. Was ihn wirklich treibt, Medea ans Messer zu liefern, durchschaute ich erst nach und nach. Presbon will nicht nur geliebt sein wie wir alle. Er kann sich selbst nur fühlen, wenn ihn eine große Menge bewundert, der er ihre Feste ausrichtet, egal, ob er an ihre Götter glaubt. Er macht sich an sie glauben. Medea, denkt er, verachtet ihn dafür. In Wirklichkeit ist es schlimmer: Er ist ihr gleichgültig. Das muß ihm ein unleidlicher Stachel imFleisch sein, und ich habe ihm das Mittel an die Hand gegeben, sich diesen Stachel ein für allemal auszureißen.
    Akamas empfing uns mit dieser schwer zu beschreibenden Distanz, die die Korinther von Anfang an uns Kolchern gegenüber angenommen haben und die, wie nahe einer oder eine von uns ihnen auch zu kommen glaubt, niemals zu überwinden ist. Sie werden ja mit der unerschütterlichen Überzeugung geboren, daß sie den kleinwüchsigen braunhäutigen Menschen überlegen sind, die in den Dörfern um ihre Stadt herum leben und bei denen sich die Legende hält, sie seien die Ureinwohner, sie hätten als erste die Ufer dieses Meeres besiedelt, sie hätten hier zuerst den Fisch gefangen und den Olivenbaum angepflanzt. Klar, daß sie uns Kolcher an sich zogen, daß sie uns als Ihresgleichen in ihre Siedlungen aufnehmen wollten, daß sie unseren Männern ihre Töchter anboten, unseren Mädchen ihre Söhne. Am liebsten hätten sie uns mit untergerührt in den gestalt- und gesichtslosen Brei dieses Stammes- und Völkergemischs, und es gab ja Kolcher, die, erschöpft nach langer Irrfahrt, ihrer Widerstandskräfte beraubt, dieser Versuchung unterlagen, sich in die Arme dieser unterlegenen Völkerschaften warfen, sich in ihnen auflösten und so aufhörten, Kolcher zu sein. Auch mir scheint es schwachsinnig, sich an ein unhaltbares Selbstbild zu klammern, aber warum sich nicht anstrengen, in die höhere

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