Medicus 01 - Der Medicus
dieser privilegierten Stelle an gingen sie zu Fuß zwischen den Armen weiter.
Untergeordnete Beamte, die graue Kleidung und Turbane trugen, gingen nun durch die Menge und forderten die Leute, die Bitten vorzubringen hatten, auf, ihre Namen zu nennen. Rob drängte sich zum Gang durch und buchstabierte seinen Namen mühsam einem dieser Schreiber, der ihn auf merkwürdig dünnem Pergament notierte.
Ein hochgewachsener Mann hatte das erhöhte Podest an der Front der Halle betreten, auf dem ein großer Thron stand. Rob war zu weit vom Podest entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber der Mann war nicht der Schah, denn er setzte sich auf einen kleineren Thron rechts vom Herrscherthron.
»Wer ist das?« fragte Rob den Juden, mit dem er vorher gesprochen hatte.
»Es ist der Großwesir, der heilige Imam Mirza-abul Qandrasseh.« Der Jude blickte Rob beunruhigt an, denn es war nicht unbemerkt geblieben, daß es sich bei ihm um einen Bittsteller handelte. Alã-al-Dawla Shahansha schritt auf das Podest zu, nahm sein Schwertgehenk ab, legte die Schneide auf den Boden und nahm auf dem Thron Platz. Alle Anwesenden verrichteten den ravi zemin , während der Imam Qandrasseh die Gunst Allahs auf diejenigen herabrief, die beim Löwen von Persien Gerechtigkeit suchen würden. Die Audienz begann sofort.
Rob konnte trotz der plötzlich eingetretenen Stille weder die Bittsteller noch die beiden Thronenden deutlich vernehmen. Aber wann immer eine wichtige Persönlichkeit sprach, wurden deren Worte von Leuten, die an akustisch günstigen Stellen in der Halle postiert waren, mit lauter Stimme wiederholt, und auf diese Weise erreichten die Worte der Teilnehmer getreulich alle Anwesenden.
Der erste Fall betraf zwei wettergegerbte Schäfer aus dem Dorf Ardistan, die zwei Tage gegangen waren, um ihren Streit in Isfahan vor dem Schah auszutragen. Sie konnten sich über den Besitzanspruch an einem jungen Zicklein nicht einigen.
Dem einen Mann gehörte die Mutterziege, die lange unfruchtbar gewesen war. Der andere erklärte, er habe die Geiß für die erfolgreiche Besteigung durch den Ziegenbock bereit gemacht und betrachte sich daher jetzt als halber Besitzer des Zickleins. »Hast du Zauberei angewendet?« fragte der Imam. »Eure Exzellenz, ich habe nur eine Feder eingeführt und sie hitzig gemacht«, erklärte der Mann, worauf die Menge vor Lachen brüllte und stampfte. Darauf verlautbarte der Imam, daß der Schah zugunsten des Mannes mit der Feder entschieden habe.
Für die meisten Anwesenden war die Audienz eine Unterhaltung. Der Schah sprach nie selbst. Vielleicht übermittelte er Qandrasseh seine Wünsche durch Zeichen, aber alle Fragen und Entscheidungen schienen von dem Imam auszugehen, der nichts für Dummköpfe übrig hatte.
Der nächste Fall war weniger vergnüglich. Er wurde von zwei ältlichen Adeligen in kostbaren Seidengewändern vorgebracht, die eine geringfügige Meinungsverschiedenheit wegen irgendwelcher Weiderechte hatten. Er führte zu einer scheinbar endlosen Diskussion im Flüsterton über uralte Vereinbarungen zwischen längst Verstorbenen. Die Zuhörer gähnten und beklagten sich leise über die schlechte Luft in der überfüllten Halle und die Schmerzen in ihren müden Beinen. Sie zeigten keine Gefühlsregung, als das Urteil gesprochen wurde. »Laßt Jesse ben Benjamin, einen Juden aus England, vortreten«, rief jemand.
Sein Name hing in der Luft, dann hallte er durch den Saal wider, als er immer wieder gerufen wurde. Rob hinkte den langen, teppichbelegten Gang entlang. Ihm war bewußt, daß er den schmutzigen, zerrissenen Kaftan und den schäbigen ledernen Judenhut trug, der zu seinem mißhandelten Gesicht paßte.
Endlich näherte er sich dem Thron und führte dreimal den ravi zemin aus, denn er hatte beobachtet, daß dies von einem Bittsteller erwartet wurde.
Als er sich aufrichtete, sah er den Imam, mullah -schwarzgekleidet. Eine schmale Hakennase beherrschte sein eigenwilliges Gesicht, das von einem eisengrauen Bart umrahmt war.
Der Schah trug den weißen Turban eines frommen Mannes, der in Mekka gewesen ist; in seinen Falten steckte ein schmales, goldenes Krönchen. Die lange, weiße Tunika bestand aus glattem, leichtem Stoff, der mit blauen und goldenen Fäden durchwirkt war. Dunkelblaue Gamaschen bedeckten seine Unterschenkel, und seine spitzen, blauen Schuhe waren blutrot bestickt. Er wirkte unbewegt, und sein Blick war leer - das Bild eines Mannes, der unaufmerksam ist, weil er sich
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