Medicus 01 - Der Medicus
Sorgfalt abmaß. Er aß mehr, als er brauchte, stopfte sich voll, kehrte dann in sein Bett zurück und ruhte sich aus, während der Selleriesamen zu wirken begann. Er betete nicht um Sieg. Als er ein Junge war, hatte ihm Zaki-Omar oft genug gepredigt: »Jeder gelbe Hund von einem Läufer betet um den Sieg. Wie verwirrend für Allah! Es ist besser, wenn man Ihn bittet, einem Schnelligkeit und Ausdauer zu verleihen, um damit selbst die Verantwortung für Sieg oder Niederlage zu übernehmen.« Als er den Drang verspürte, stand er auf, ging zum Eimer und hockte sich lange und befriedigend darüber, um seine Gedärme zu entleeren. Die Menge Selleriesamen war richtig bemessen gewesen: Als er fertig war, war er entleert, aber nicht geschwächt.
Er wärmte Wasser, badete bei Kerzenlicht und rieb sich rasch trocken, denn die abnehmende Dunkelheit brachte Kühle. Dann fettete er sich mit Olivenöl gegen die Sonne ein, und jene Stellen zweimal, an denen durch Reibung offene Stellen entstehen konnten: Brustwarzen, Achselhöhlen, Leiste und Penis, die Gesäßfalte und schließlich die Füße, wobei er darauf achtete, auch die Zehenspitzen einzuölen. Er legte ein leinenes Hüfttuch und ein Leinenhemd an, leichte Laufschuhe und eine schmucke, federgeschmückte Mütze. Um den Hals hängte er den Köcher des Bogenschützen und ein Amulett in einem kleinen Stoffbeutel. Er warf sich einen Umhang über die Schultern, um sich gegen die Kühle zu schützen, und verließ dann das Haus. Er ging zuerst langsam und dann schneller, spürte die Wärme, die seine Muskeln und Gelenke lockerte. Es waren noch wenige Menschen unterwegs. Niemand bemerkte ihn, als er zu einem Busch trat und ein letztes Mal nervös seine Blase entleerte.
Doch als er zum Start bei der Zugbrücke des Hauses des Paradieses kam, hatte sich dort schon eine nundertköpfige Menschenmenge versammelt. Er bahnte sich vorsichtig den Weg hindurch, bis er, wie verabredet, ganz hinten auf Mirdin stieß, und dort gesellte sich etwas später auch Jesse ben Benjamin zu ihnen.
Die Freunde begrüßten einander förmlich. Kanm merkte, daß etwas zwischen ihnen stand. Er schob es aber sofort beiseite. Jetzt durfte man nur an den Wettlauf denken.
Jesse lächelte ihn an und deutete fragend auf den kleinen Beutel an seinem Hals.
»Mein Glücksbringer«, erklärte Karim. »Von meiner Liebsten.« Aber er sollte vor einem Wettlauf nicht sprechen, konnte es nicht. Er lächelte Jesse und Mirdin kurz zu, um anzudeuten, daß er sie nicht beleidigen wollte, schloß die Augen, schuf eine Leere um sich und schloß damit das laute Gerede und das lärmende Gelächter aus. Er betete.
Als er die Augen aufschlug, war der Nebel perlgrau geworden. Er sah durch ihn hindurch als vollkommen runde, rote Scheibe die Sonne. Die Luft war schon drückend warm. Schlagartig wurde ihm klar, daß es ein erbarmungslos heißer Tag werden würde. Dagegen war er machtlos.
Imshallah!
Er nahm den Umhang ab und übergab ihn Jesse. Mirdin war blaß. »Allah sei mit dir!«
»Lauf mit Gott, Karim!« sagte Jesse.
Er antwortete nicht. Jetzt war Stille eingetreten. Die Läufer und die Zuschauer starrten zum nächsten Minarett, es war jenes der Freitagsmoschee, hinauf, wo eine winzige Gestalt in einem dunklen Gewand soeben den Umgang betrat.
Einen Augenblick später drang der eindringliche Ruf zum ersten Gebet an ihre Ohren, und Karim warf sich in Richtung Südosten gen Mekka zu Boden.
Als das Gebet zu Ende war, schrien Läufer und Zuschauer aus vollem Hals. Es war beängstigend und ließ Rob erzittern. Einige riefen den Läufern aufmunternde Worte zu, andere riefen Allah an. Viele brüllten einfach den schrecklichen Kampfruf, den Männer ausstoßen, wenn sie eine feindliche Festung angreifen.
Karim stand weiter hinten, wo man die Bewegung unter den vordersten Läufern nur ahnen konnte, denn er wußte aus Erfahrung, daß manche vorsprangen, um in die erste Reihe zu gelangen, kämpften und drängten, ohne sich darum zu kümmern, wer niedergestoßen oder verwundet wurde. Deshalb wartete er voll Verachtung und geduldig in der hintersten Reihe, während eine Gruppe von Läufern nach der anderen vor ihm startete und ihn mit ihrem Lärm störte. Aber endlich lief auch Karim. Der chatir hatte begonnen, und Mirdins und Jesses Freund lag am Ende einer langen Schlange von Läufern.
Er lief sehr langsam. Für die ersten fünfeinviertel Meilen würde er lang brauchen, doch das gehörte zu seiner Taktik. Die Alternative wäre
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