Medicus 01 - Der Medicus
der zu einem seldschukischen Plünderer gepaßt hätte. Die Geschicklichkeit und Schnelligkeit, mit der die Armee ihres Königs angriff, überraschte Rob, war aber dennoch kein großer Schreck, denn er hatte längst erkannt, daß Mary Cullen ein außergewöhnliches Geschöpf war.
In diesem Jahr beteiligte sich Karim nicht an dem chatir . Er hatte nicht mehr geübt und war auch für einen Läufer viel zu schwer geworden. Er wohnte dem Rennen mit Alã Shahansha als Zuschauer bei.
Der erste Tag des Monats Shawwa dämmerte noch heißer herauf als der Tag, an dem Karim gesiegt hatte, und die Läufer waren diesmal sehr langsam. Der Herrscher hatte wieder jedem einen calãt versprochen, der Karims Spitzenleistung wiederholen und alle zwölf Runden vor dem letzten Gebet beenden konnte. Aber es war klar ersichtlich, daß an diesem Tag niemand einhundertsechsundzwanzig Meilen laufen würde.
Es kam erst ab der fünften Runde zu einem Wettkampf und schließlich zu einem Duell zwischen al-Harãt aus Hamadhãn und einem jungen Soldaten namens Nafis Jurjis. Aber nachdem Nafis sich seinen achten Pfeil geholt hatte, gab er auf, so daß nur noch al-Harãt im Rennen war. Da es schon spät am Nachmittag und die Hitze unmenschlich war, gab al-Harãt vernünftigerweise durch Zeichen zu verstehen, daß er die Runde beenden und seinen Sieg anmelden würde. Karim und der Schah ritten die letzte Runde ein Stück vor dem Läufer her, um ihn am Ziel zu begrüßen, Alã auf seinem wilden weißen Hengst und Karim auf seinem unruhigen grauen Araber.
Karims schlechte Stimmung hatte sich im Lauf des Rennens gebessert, weil es lange dauern würde - wenn es überhaupt dazu kam —, bis ein anderer Läufer den chatir so gut schaffen würde wie er. Als sie an der madrassa vorbeikamen, erblickte er den Eunuchen Wasif auf dem Dach des Krankenhauses und neben ihm die verschleierte Despina. Bei ihrem Anblick vollführte Karims Herz einen Sprung, und er lächelte. War es nicht besser, auf einem herrlichen Pferd und in Seide und Leinen gekleidet vor ihr vorbeizureiten, als nach Schweiß stinkend und blind vor Erschöpfung vorbeizuwanken? Nicht weit von Despina wurde einer Frau ohne Schleier die Hitze zuviel. Sie nahm ihren schwarzen Schal ab und schüttelte den Kopf, als wolle sie Karims stolzes Pferd nachahmen. Ihr Haar fiel herab und breitete sich, lang und wogend, fächerförmig aus. Die Sonne schimmerte herrlich in den Flechten und zauberte verschiedene Farbabstufungen von Gold und Rot auf sie.
Der Schah fragte den neben ihm reitenden Karim: »Ist das die Frau des Dhimmi , die Europäerin?«
»Ja, Majestät. Die Frau unseres Freundes Jesse ben Benjamin.«
»Das dachte ich mir«, sagte Alã. Der Schah beobachtete die unverschleierte Frau, bis sie an ihr vorbei waren. Er stellte keine Fragen mehr, und bald konnte ihn Karim in ein Gespräch über den indischen Schmied Dhan Vangalil und die Schwerter verwickeln, die dieser mit seinem neuen Ofen in der Schmiede hinter den Ställen des Hauses des Paradieses herstellte.
Die verschmähte Belohnung
Der Meister hatte über viele Themen geschrieben. Noch als Student hatte Rob Gelegenheit gehabt, seine Werke über Medizin zu lesen, doch jetzt studierte er andere Schriften Ibn Sinas, und er empfand noch mehr Ehrfurcht vor ihm. Er hatte über Musik und Poesie, über Astronomie und Metaphysik, über die östliche Denkweise, die Sprachen und den schöpferischen Geist geschrieben und außerdem Kommentare zu allen Büchern von Aristoteles. Während er in der Festung Fardajãn gefangengehalten wurde, hatte er ein Buch mit dem Titel >Anleitung< geschrieben, das alle Sparten der Philosophie zusammenfaßte. Es lag sogar ein militärisches Handbuch vor, »Die Führung und Versorgung von Soldaten, Sklaventruppen und Armeen«, das Rob nützlich gewesen wäre, wenn er es gelesen hätte, bevor er als Feldscher nach Indien zog. Ibn hatte über Mathematik, die menschliche Seele und über das Wesen des Kummers geschrieben. Und immer wieder hatte er über den Islam geschrieben, die Religion, in der ihn sein Vater erzogen hatte und die er, trotz der Wissenschaft, die sein ganzes Sein erfüllte, voll Vertrauen akzeptieren konnte.
Deshalb liebten ihn auch die Menschen so. Sie sahen, daß Ibn Sina trotz des luxuriösen Besitzes und aller Einkünfte aus dem königlichen calãt , trotz der Tatsache, daß Gelehrte aus aller Welt ihn aufsuchten und Könige um die Ehre wetteiferten, als Gönner des Meisters zu gelten - trotz all
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