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Medicus 03 - Die Erben des Medicus

Titel: Medicus 03 - Die Erben des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Rollschuhen Kunststücke vorführen. Sie ergingen sich in spitzfindigen Debatten über gewisse Punkte im Zeraim , im Berachot und einem Dutzend Kommentaren. Mir wurde bewußt, daß ich hier Zeuge einer Gelehrsamkeit wurde, wie sie seit fast sechstausend Jahren und an vielen Orten praktiziert wird, in der großen Talmud-Akademie in Nehardea, in der Beth-Midresh des Salomo Ben Isaak, im Studierzimmer des Maimo nides oder in den Jeschiwas Osteuropas. Die Diskussion wurde in einem rasant wechselnden Mischmasch aus Jiddisch, Hebräisch, Aramäisch und Umgangsenglisch geführt. Vieles davon verstand ich nicht, doch wenn sie über ein Zitat nachdachten, wurde der Wortwechsel häufig langsamer. In meinem Kopf hämmerte noch immer der Schmerz, aber ich war fasziniert von dem, was ich verstehen konnte.
    Ich merkte bald, wer ihr Vorsteher war: ein älterer Jude mit grauem Vollbart und ebensolcher Mähne, einem prallen Bauch unter seinem Gebetsschal, mit Flecken auf der Krawatte und einer runden Stahlbrille, hinter der stark vergrößert intensive achatblaue Augen funkelten. Der Rebbe saß stoisch da und beantwortete die Fragen, die von Zeit zu Zeit an ihn gerichtet wurden.
    Der Vormittag flog nur so vorüber. Ich kam mir vor wie in einem Traum gefangen. Als es Zeit zum Mittagessen war, holten die Gelehrten ihre braunen Lunch-Tüten hervor, und ich löste mich aus meiner Versunkenheit und wollte mich zum Gehen wenden, da winkte mich der Rebbe zu sich. »Komm mit mir, bitte! Wir werden etwas essen.« Ich folgte ihm aus dem Lesesaal, und es ging durch zwei kleine Klassenzimmer mit Reihen abgenutzter Schulbänke und hebräischen Hausaufgaben der Kinder an der Wand neben der Tafel, bis wir schließlich eine Treppe hochstiegen.
    Es war eine kleine, ordentliche Wohnung. Der Parkettboden glänzte, auf den Möbeln im Wohnzimmer lagen Spitzendeckchen. Alles war an seinem Platz; kleine Kinder gab es hier offensichtlich nicht »Hier wohne ich mit meiner Frau Dvora. Sie ist im Nachbarort bei der Arbeit, verkauft Klaider. Ich bin Rabbi Moscowitz.«
    »David Markus.«
    Wir gaben uns die Hand.
    Die Kleiderverkäuferin hatte Thunfischsalat und Gemüse in den Kühlschrank gestellt, und der Rebbe holte mit flinken Bewegungen Challa-Scheiben aus dem Gefrierfach und steckte sie in den Toaster.
    »Nu«, sagte er, als er die Mahlzeit gesegnet hatte und wir zu essen begannen. »Was tust du? Biste ein Vertreter?«
    Ich zögerte. Wenn ich mich als Immobilienmakler zu erkennen gab, würde das wahrscheinlich neugierige Fragen nach die möglicherweise in der Nachbarschaft zum Verkauf standen, hervorrufen. »Ich bin Schriftsteller.«
    »Wirklich? Und worüber schreibst du?«
    So ist es, wenn man mit dem Lügen anfängt, sagte ich mir. »Über Landwirtschaft.«
    »Hier gibt es sehr viele Farmer«, sagte der Rebbe, und ich nickte.
    Wir aßen in kameradschaftlichem Schweigen zu Ende. Danach half ich ihm beim Tischabräumen.
    »Magst du einen Apfel?«
    »Ja.«
    Der Rebbe holte ein paar frühe Macintosh aus dem Kühlschrank.
    »Hast für heute nacht schon ein Zimmer?«
    »Noch nicht.«
    »Dann bleib bei uns! Wir vermieten unser Gästezimmer, es ist nicht teuer. Und morgen früh können wir dich wieder als zehnten Mann brauchen. Wir wär's?«
    Der Apfel, in den ich biß, war sauer und knackig. An der Wand hing der Fotokalender einer Matzenbäckerei mit einer Abbildung der Klagemauer. Ich hatte es satt, immer nur im Auto zu sitzen, und als ich zuvor das Bad benutzt hatte, war es makellos sauber gewesen. Ja, warum eigentlich nicht, dachte ich etwas benommen.
    In der Nacht stand Rabbi Moscowitz häufig auf und schlurfte auf müden Füßen in Pantoffeln ins Bad. Ich nahrn an, daß er eine vergrößerte Prostata hatte.
    Dvora, seine Gattin, war eine kleine, graue Frau mit rosigem Gesicht und lebendigen Augen. Sie erinnerte mich an ein gütiges Eichhörnchen, und jeden Morgen beim Zubereiten des Frühstücks sang sie mit süßer, zitternder Stimme jüdische Liebes - und Wiegenlieder.
    Ich räumte meine Kleider nicht in die Kommode, sondern lebte aus dem Koffer, denn ich hatte vor, bald wieder weiterzuziehen. Jeden Morgen machte ich mir selbst mein Bett und räumte mein Zimmer auf. Dvora Moscowitz meinte, um einen solchen Logiergast würde sie jeder beneiden.
    Am Freitag gab es zum Abendessen jene Speisen, die meine Mutter mir als Junge immer vorgesetzt hatte: gefilten Fisch, Hühnersuppe mit Mandeln, Brathähnchen mit Kartoffelkugeln, Fruchtkompott und Tee. Am

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