Medicus 03 - Die Erben des Medicus
langsamer wurde, ging ich auf sie zu, redete beruhigend auf sie ein und packte dann die Zügel.
Schwer atmend und mit hochrotem Gesicht kam der Mann angerannt »Danke. Vie len Dank«, sagte er auf pennsylvaniadeutsch. »Sie wissen, wie man mit solchen Tieren umgehen muß, ja?« fuhr er dann auf englisch fort, damit ich ihn verstehen konnte. »Wir hatten früher auch ein Pferd.«
Das Gesicht des Mannes verschwamm vor meinen Augen, ich mußte mich gegen das Auto lehnen.
»Sie sind krank? Brauchen Hilfe?«
»Nein, ich bin in Ordnung. Alles in Ordnung.« Das Schwindelgefühl ließ nach. Ich mußte nur aus der unbarmherzig sengenden Sonne. Ich hatte »Tylenol« im Auto. »Wissen Sie vielleicht, wo ich hier einen Schluck Wasser bekommen kann?«
Der Mann nickte und zeigte auf das Haus, an dem ich vorbeigefahren war. »Diese Leute, die werden Ihnen Wasser geben. Klopfen Sie an ihre Tür!«
Das Farmhaus war umgeben von Getreidefeldern, aber es gehörte nicht Amischen. Im Hinterhof sah ich nämlich eine ganze Reihe von Autos stehen, deren Gebrauch Amische ablehnen. Ich hatte bereits geklopft, als mir das kleine Schild auffiel:
YESHIVAYISROEL
Das Studienhaus Israels. Durch das offene Fenster drang hebräischer Gesang, unverkennbar Zeilen aus einem Psalm: »Bayt Yisroel barachu et-Adonai, bayt Aharon barachu et-Adonai! O du Haus Israel, lobe den Herrn, o du Haus Aaron, lobe den Herrn!« Die Tür wurde von einem bärtigen Mann geöffnet, der in dunkler Hose und weißem Hemd aussah wie ein Amischer, doch auf seinem Kopf hatte er ein Käppchen, sein linker Hemdsärmel war hochgekrempelt, und um Stirn und Arm waren Gebetsriemen gewickelt. Hinter ihm saßen Männer an einem Tisch. Er sah mich an. »Komm rein, komm rein. Bist a Jid?«
»Ja.«
»Wir haben auf dich gewartet«, sagte er auf jiddisch.
Eine Vorstellung gab es nicht. Vorgestellt wurde später. »Du bist der zehnte Mann«, sagte ein Graubart. Ich begriff, daß ich für sie den Minjan vervollständigte, so daß sie nun mit dem Psalmensingen aufhören und die Morgengebete beginnen konnten. Einige Männer lächelten, andere murmelten nur mürrisch, es werde langsam Zeit. Ich stöhnte innerlich. Nicht unter den besten Umständen hätte ich mir gewünscht, in einem orthodoxen Gottesdienst festzusitzen.
Aber unter diesen Umständen, was blieb mir anderes übrig? Auf dem Tisch standen Wasser und Gläser, und sie ließen mich zuerst trinken. Jemand gab mir Gebetsriemen.
»Nein, vielen Dank.«
»Was? Sei doch kein Nahr. Du mußt die Tefillin anlegen, die beißen nicht«, brummte der Mann.
Es war schon zu lange her, und sie mußten mir helfen, die dünnen Lederriemen korrekt um den Unterarm, die Hand und den Mittelfinger zu wickeln und die Kapsel mit dem Schriftvers zwischen den Augen zu befestigen. Unterdessen kamen noch zwei Männer herein und legten die Teßllin an, doch niemand drängte mich. Später erfuhr ich, daß sie es gewöhnt waren, nicht praktizierende Juden bei sich zu haben. Es war für sie eine Mizwa, eine Pflicht, Ungläubige unterweisen zu dürfen. Als die Ge bete anfingen, merkte ich, daß mein lange vernachlässigtes Hebräisch zwar eingerostet, aber noch recht brauchbar war.
Vor Urzeiten im Seminar war ich immer wegen meines guten Hebräisch gelobt worden.
Gegen Ende der Andacht standen drei Männer auf, um ein Kaddisch, ein Gebet für die Toten, zu sprechen, und ich stand mit ihnen auf. Anschließend gab es Frühstück mit Orangen, hartgekochten Eiern, Kichlach und starkem Tee. Ich überlegte eben, wie ich mich am besten aus dem Staub machen könnte, als das Geschirr weggeräumt wurde und die großen hebräischen Folianten auf den Tisch kamen, die Seiten vergilbt und spröde, die Ecken der Ledereinbände aufgebogen und abgenutzt. Dann setzten sie sich auf buntzusammengewürfelten Holzstühlen um den Tisch und beugten sich über die Schriften, doch sie studierten sie nicht nur, sie widersprachen sich gegenseitig, argumentierten eifrig und hörten einander mit höchster Aufmerksamkeit zu. Das Thema war die Zusammensetzung des Menschen aus yetzer hatov, guten Trieben, und yetzer harah, bösen Trieben. Ich staunte, wie selten sie in den vor ihnen liegenden Texten nachsehen mußten; ganze Passagen aus den vor eintausendachthundert Jahren von Rabbi Judah niedergeschriebenen Gesetzestexten konnten sie aus dem Gedächtnis zitieren.
Gewandt und stilkundig bewegten sie sich sowohl im Babylonischen wie im Palästinensischen Talmud, wie Burschen, die auf
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