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Medicus 03 - Die Erben des Medicus

Titel: Medicus 03 - Die Erben des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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das Zimmer sei frei, und nach dem Frühstück brachte ich meine Sachen nach oben. Diesmal packte ich meinen Koffer aus, hängte einiges in den Schrank und legte den Rest in die Schubladen der Kommode. Aus dem Herbst wurde Winter, der in Ohio ganz ahnlich ist wie in Woodfield, nur daß die verschneite Landschaft offener wirkt, weil Feld sich an Feld reiht. Ich zog an, was ich auch in Woodfield angezogen hätte: lange Unterhosen, Jeans, Flanellhemd und Wollsocken. Wenn ich nach draußen ging, zog ich einen dicken Pullover über, setzte eine Strickmütze auf, nahm den uralten, roten Schal, den Dvora mir gegeben hatte, und eine Marinejacke, die ich in meinem ersten Jahr in den Berkshires in einem Secondhand-Laden in Pittsfield gekauft hatte. Jeden Morgen kam ich pünktlich zum Minjan, doch mehr, weil ich mich verpflichtet fühlte, denn aus echter innerer Anteilnahme an den Gebeten. Ich hörte auch weiterhin sehr interessiert den gelehrten Diskussionen zu, die auf jede Andacht folgten, und merkte, daß ich mit der Zeit immer mehr verstand. Nachmittags kamen die Cheder-Schüler lärmend in die angrenzenden Klassenzimmer gelaufen, und einige der Gelehrten unterrichteten sie. Ich wollte mich schon freiwillig als Aushilfe melden, doch dann erkannte ich, daß die Lehrer bezahlt wurden, und ich wollte niemanden um sein täglich Brot bringen. Ich las viel in den alten hebräischen Büchern, und gelegentlich stellte ich dem Rebbe eine Frage, die wir dann besprachen. Jeder der Gelehrten wußte, daß Gott es war, der ihm dieses Studium ermöglichte, und sie alle nahmen ihre Arbeit sehr ernst. Wenn ich sie beobachtete, war es nicht ganz so, als würde Margaret Mead die Samoaner studieren - schließlich hatten meine Großeltern diesem Kulturkreis angehört -, aber ich war doch ein Fremder, ein Besucher. Ich hörte aufmerksam zu und vertiefte mich wie die anderen oft in die auf dem Tisch liegenden Traktate, um Argumente für eine These zu finden, und gelegentlich vergaß ich meine Zurückhaltung und platzte selbst mit einer Frage heraus. So auch während einer Diskussion über das verheißene Paradies.
    »Woher wissen wir, daß es ein Leben nach dem Tod gibt? Woher wissen wir, daß es eine Verbindung gibt zu unseren Lieben, die gestorben sind?«
    Alle Gesichter am Tisch wandten sich besorgt mir zu. »Weil es geschrieben steht«, murmelte Reb Gershom Miller. »Vieles, was geschrieben steht, ist unwahr.« Reb Gershom Miller wurde ungehalten, aber der Rebbe sah mich an und lächelte. »Also komm, Dovidell« sagte er. »Würdest du den Allmächtigen, gepriesen sei Sein Name, bitten, einen Vertrag zu unterschreiben?« Und ich stimmte ein wenig widerstrebend in das allgemeine Gelächter ein.
    Eines Abends sprachen wir beim Essen über die »Sechsunddreißig Gerechten«, die Lamed Waw Zaddikim. »Unsere Tradition besagt, daß es in jeder Generation sechsunddreißig rechtschaffene Männer gibt, gewöhnliche Menschen, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen, von deren Redlichkeit aber der Fortbestand der Welt abhängt«, sagte der Rebbe.
    »Sechsunddreißig Männer. Kann eine Frau denn keine Lamed wownik sein?« fragte ich.
    Der Rebbe ließ die Hand zum Bart wandern und kraulte ihn wie immer, wenn er über eine Frage nachdachte. Durch die geöffnete Tür zur Speisekammer sah ich, daß Dvora in ihrer Arbeit innegehalten hatte. Zwar konnte ich nur ihren Rücken sehen, aber sie stand da wie eine Statue und lauschte.
    »Doch, ich glaube schon.«
    Mit Eifer machte sich Dvora wieder an die Arbeit. Sie sah sehr erfreut aus, als sie den Lachssalat hereinbrachte.
    »Kann auch eine christliche Frau eine Lamed wownik sein?«
    Ich fragte das eher beiläufig, aber ich merkte, daß sie die Wichtigkeit der Frage für mich an meiner Stimme hörten und erkannten, daß etwas ungemein Persönliches dahintersteckte.
    Ich fühlte, wie Dvoras Augen mein Gesicht musterten, als sie die Platte auf den Tisch stellte.
    Die blauen Augen des Rebbe waren unergründlich. »Was glaubst du, wie die Antwort lautet?« fragte er.
    »Natürlich kann sie es.«
    Der Rebbe nickte, ohne Überraschung zu zeigen, und schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Vielleicht bist du ein Lamed wotvnik«, sagte er.
    Zu dieser Zeit wachte ich häufig mitten in der Nacht auf und hatte ein bestimmtes Parfüm in der Nase. Und mir fiel ein, daß ich das immer eingeatmet hatte, wenn mein Gesicht an deinem Hals lag.
    R.J. sah David an und wandte dann den Blick ab. Er wartete ein paar Augenblicke, bevor

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