Medicus 03 - Die Erben des Medicus
sich ernsthaft verletzte. Samantha trug einige kleine Schnittwunden davon und gewöhnte sich an verbundene Finger, aber größere Unfälle konnte sie vermeiden. Trotz der täglichen Arbeit nach der Schule war sie die erste in der Familie, die ihren High-School-Abschluß machte. Und obwohl sie auch in den folgenden fünf Sommern in der Fleischfabrik arbeitete, machte sie an der University of Missouri zuerst ihren Bachelor und dann ihren Master in vergleichender Anatomie, und den Grundkurs in menschlicher Anatomie an der Medical School begann sie mit einem eindrucksvollen Wissen über Knochenbau, innere Organe und das Kreislaufsystem der Tiere. R.J. und Samantha entwickelten eine enge Freundschaft zu einer der anderen Frauen ihres Semesters. Gwendolyn Bennett war eine lebhafte Rothaarige aus Manchester, New Hampshire. Zwar hatte die Medizin große Veränderungen durchgemacht, aber eine Domäne der Männer war sie noch immer. Es gab fünf Frauen im Lehrkörper, doch alle Lehrstühle und alle Verwaltungsposten waren mit Männern besetzt. In den Kursen wurden die Männer häufig aufgerufen, die Frauen dagegen eher übersehen. Doch die drei Freundinnen waren entschlossen, sich nicht ignorieren zu lassen. Gwen hatte bereits Erfahrungen als Frauenrechtlerin am Mount Holyoke College gemacht, und sie skizzierte den anderen ihre Strategie. »Wir müssen uns in den Kursen freiwillig melden. Der Dozent stellt Fragen, und wir heben die Hand, strecken sie ihm direkt in sein sexistisches Gesicht und geben ihm die richtige Antwort. Wir machen auf uns aufmerksam, weil wir uns die Hacken abarbeiten, klar? Das heißt, wir müssen intensiver studieren als die Männer, besser vorbereitet sein als sie, sie in allem übertrumpfen.«
Für R.J. bedeutete das eine enorme Arbeitsbelastung zusätzlich zu den medizinischjuristischen Recherchen, die sie übernahm, um an der Universität bleiben zu können, aber das war auch genau die Herausforderung, die sie brauchte. Die drei lernten gemeinsam, hörten sich vor Prüfungen gegenseitig ab und gaben einander Nachhilfe, wenn sie Wissenslücken oder Schwächen bemerkten.
Im großen und ganzen war ihre Strategie von Erfolg gekrönt, auch wenn sie sehr schnell als aggressive Frauen verschrien waren. Einige Male glaubten sie, schlechtere Noten bekommen zu haben, weil ein Dozent Vorurteile gegen sie hatte, aber meistens erhielten sie die guten Bewertungen, die sie verdient hatten. Mit Männern gingen sie nur gelegentlich aus, weil Zeit und Kraft zu etwas Kostbarem geworden waren, mit dem man geizen mußte. An freien Abenden gingen sie gemeinsam ins Anatomielabor, das zu Samanthas eigentlichem Zuhause geworden war. Von Anfang an wußte jeder in der Anatomie, daß Samantha ein As war, eine zukünftige Professorin in ihrem Spezialgebiet Während andere Studenten um einen Arm oder ein Bein zum Sezieren kämpfen mußten, war für Samantha immer irgendwie eine ganze Leiche reserviert, und die teilte sich Sam mit ihren zwei Freundinnen. In vier Jahren hatten sie zusammen vier Tote seziert: einen älteren, glatzköpfigen Chinesen mit überentwickeltem Brustkorb, der auf ein chronisches Emphysem hindeutete, eine alte schwarze Frau mit grauen Haaren und zwei Weiße, einen athletischen Mann mittleren Alters und eine Schwangere etwa in ihrem Alter. Samantha führte R.J. und Gwen ins Studium der Anatomie ein, als wäre es ein exotisches Wunderland. Stundenlang konnten sie sezieren, Schicht um Schicht legten sie frei, Muskeln und Organe, Gelenke und Blutgefäße stellten sie dar und skizzierten sie mit höchster Detailgenauigkeit und nahmen so Einblick in die wundervolle Komplexität und die Geheimnisse des menschlichen anatomischen Apparats.
Kurz vor Beginn des zweiten Jahres an der Medical School gaben R.J. und Samantha die Wohnung an der Charles Street auf. R.J. war froh, den umgebauten Stall zu verlassen, war er doch voller Erinnerungen an Charlie. Sie taten sich mit Gwen zusammen und mieteten sich zu dritt eine heruntergekommene Eisenbahnerwohnung nur einen Block von der Medical School entfernt. Sie lag am Rand eines zwielichtigen Viertels, aber von dort aus mußten sie nicht wertvolle Zeit vergeuden, um in die Labore oder ins Krankenhaus zu kommen. Am Abend vor Semesterbeginn gaben sie eine Einzugsparty, und typischerweise waren es die Gastgeberinnen selbst, die ihre Gäste ziemlich früh wieder hinausscheuchten, um am nächsten Morgen in Topform zu sein.
Als dann die Zeit der klinischen Praktika auf den
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