Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Krankenstationen begann, stürzte R.J. sich in diese Arbeit, als hätte sie sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet. Sie sah die Medizin mit anderen Augen als die meisten ihrer Kommilitonen. Weil sie Charlie Harris wegen eines verunreinigten Katheters verloren hatte und weil sie sich als Juristin ständig mit Kunstfehlerprozessen beschäftigte, neigte sie dazu, Gefahren zu erkennen, für die ihre Mitstudenten blind waren.
Bei ihren juristischen Recherchen stieß sie auf einen Bericht eines Dr. Knight Steel vom Boston University Medical Center, der achthundertfünfzehn aufeinanderfolgende medizin ische Fälle (ausgenommen Krebs, da bei der Chemotherapie das Risiko fataler Nebenwirkungen sehr hoch ist) untersucht hatte. Von diesen Patienten zeigten zweihundertneunzig - das ist mehr als ein Drittel - iatrogene Symptome.
Bei dreiundsiebzig Patienten, neun Prozent, kam es zu Komplikationen, die lebensbedrohend waren oder permanente Behinderungen hinterließen - Katastrophen also, die nicht passiert wären, wenn diese Menschen sich von Ärzten und Krankenhäusern ferngehalten hätten.
Zu diesen Vorfallen war es gekommen bei der Medikation, bei Diagnoseverfahren und Behandlung, bei Ernährung, Pflege und Transport, bei Herzkatheterisierung, intravenösen Prozeduren, Arteriographie und Dialyse, bei Harnröhrenkatheterisierung und einer Vielzahl anderer Verfahren, die ein Patient über sich ergehen lassen muß.
Bald war es R.J. klar, daß den Patienten in jedem Bereich der medizinischen Versorgung von ihren Wohltätern Gefahren drohten. Je mehr neue Medikamente auf den Markt kamen und je mehr Tests und Laboruntersuchungen von Ärzten als Schutz gegen Kunstfehlerprozesse angeordnet wurden, desto höher wurde auch das Risiko iatrogener Schädigungen. Dr. Franz Ingelfinger, höchst angesehener Professor für Medizin in Harvard und Herausgeber des »New England Journal of Medicine«, schrieb: »Gehen wir davon aus, daß achtzig Prozent der Patienten an Krankheiten leiden, die entweder selbsümitierend oder auch von der modernen Medizin nicht zu verbessern sind. In knapp über zehn Prozent aller Fälle jedoch zeigt ein medizinisches Eingreifen deutlichen Erfolg. Leider ist es bei den verbleibenden neun Prozent, plus oder minus einige Zehntel, so, daß der Arzt unangemessert diagnostiziert oder behandelt, oder er hat einfach Pech. Was immer der Grund auch sein mag, der Patient bekommt iatrogene Probleme.«
R.J. erkannte, daß trotz des hohen Aufwands an Geld und menschlichem Leid die Medical Schools bei den Studenten weder ein Bewußtsein für das Risiko menschlichen Fehlverhaltens bei der Patientenbehandlung ausbildeten noch ihnen beibrachten, wie sie auf Kunstfehlervorwürfe zu reagieren hatten, und das trotz der starken Zunahme von Prozessen gegen Ärzte. Im weiteren Verlauf ihrer Arbeit für Wigoder, Grant & Berlow stellte R.J. eine umfangreiche Akte mit Fällen und Daten aus diesen beiden Bereichen zusammen.
Nach dem Examen brach das Trio auseinander. Samantha hatte schon immer gewußt, daß sie einmal Anatomie lehren wollte, und sie nahm deshalb eine Stelle als Assistenzärztin in der Pathologie des Yale New Haven Medical Center an. Gwen hatte beinahe bis zum Ende ihrer vier Jahre an der Medical School keine Ahnung, in welche Richtung sie sich spezialisieren wollte, doch schließlich brachte ihr politisches Engagement sie auf die Gynäkologie, und sie ging als Assistenzärztin an das Mary Hitchcock Hospital in Hanover, New Hampshire. R.J. wollte alles kennenlernen, was das Leben als Ärztin mit sich brachte. Sie blieb in Boston und begann eine dreijährige Assistenzzeit am Lemuel Grace Hospital. Auch in den schlimmsten Zeiten, wenn sie mit Dreckarbeit eingedeckt wurde, trotz all der Plackerei, der Schlaflosigkeit und den endlosen Bereitschaftsdiensten, zweifelte sie keinen Augenblick an dem, was sie tat. Sie war die einzige Frau unter dreißig internistischen Assistenten. Wie in der Law School und der Medical School mußte sie ein wenig lauter reden als die Männer und ein wenig mehr arbeiten. Das Ärztezimmer war Männergebiet, wo ihre Assistentenkollegen sich gehenließen, obszöne Witze über Frauen rissen (die gynäkologischen Assistenten hießen nur Mösenmeister ) und sie meist ignorierten. Aber sie hatte von Anfang an ihr Ziel fest vor Augen, und das hieß, die beste Ärztin zu werden, die sie nur werden konnte, und sie konnte es sich leisten, sich über Sexismus erhaben zu fühlen, wenn er ihr begegnete,
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