Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Nachbarn kennen, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Sie gewöhnte sich an, immer ihr Fernglas in Reichweite zu haben.
Einmal sah sie im Morgengrauen durch das Küchenfenster einen Rotluchs, der frech über die Wiese stolzierte. Vom Fenster ihres Arbeitszimmers aus beobachtete sie auf der feuchten Wiese vier Otter, die vom Fluß hergekommen waren, um im Marschland zu jagen. In einer mäandernden Reihe liefen sie so dicht hintereinander her, daß sie aussahen wie die Windungen einer großen Schlange, ein Loch-Ness-Monster in der Feuchtwiese. Sie sah Schildkröten und Schlangen, ein fettes, altes Waldmurmeltier, das jeden Tag im Klee der Wiese äste, und ein Baurnstachelschwein, das aus dem Wald herausgewatschelt kam, um die winzigen blaßgrünen Äpfel zu fressen, die vor der Zeit von den Bäumen gefallen waren. Strauchwerk und Bäume waren voller Sing- und Raubvögel. Ohne sich groß anstrengen zu müssen, konnte sie einen Blaureiher und verschiedene Falkenarten beobachten. Von ihrer Veranda aus sah sie eine Ohreule, die sich schnell wie das Unheil und leise wie ein Flüstern herabstürzte, um eine über die Wiese huschende Wühlmaus zu packen. Dann stieg sie wieder auf und verschwand.
Sie erzählte Janet Cantwell, was sie alles gesehen hatte. Die Gemeinderätin unterrichtete Biologie an der Universität in Amherst. »Das kommt daher, daß Ihr Haus an einer Grenze steht, an der verschiedene Lebensräume zusammenstoßen. Feuchtwiese, Trockenweide, dichter Wald mit Teichen, dazu der saubere Fluß, der das Ganze durchfließt. Die Tiere finden hier hervorragende Jagdmöglichkeiten.«
Bei ihren Fahrten durch die Gegend sah R.J. immer wieder Anwesen mit Namensschildern. Einige Namen waren nur erklärende Bezeichnungen: Schroeder's Ten Acres , Ransome's Tree Farm oder Peterson's Reward . Andere waren lustig: Dunrovin und It's Our Place , oder beschreibend: Ten Oaks , Windcrest und Walnut Hill . Einige Namen waren einfach zu köstlich, und sie hätte ihr Haus gern Catamount River Farm genannt, aber so hieß schon seit vielen Jahren ein Haus eine Meile flußaufwärts; und außerdem wäre es anmaßend gewesen, ihr Anwesen noch als eine Farm zu bezeichnen.
David, dieser Mann mit den vielen Gesichtern, besaß einen Keller voller elektrischer Werkzeuge und bot ihr an, ihr beim Aufstellen eines Namensschilds zu helfen. Sie erzählte Hank Krantz davon, und der kam eines Morgens mit seinem großen John-Deere-Traktor und einem Jaucheanhänger im Schlepptau auf ihren Hof gedonnert. »Steigen Sie ein!« sagte er. »Wir besorgen Ihnen einen Pfosten für Ihr Hausschild.« Sie kletterte auf den glücklicherweise leeren, aber nichtsdestoweniger nach Kuhmist stinkenden Dungwagen und hielt sich kopfschüttelnd am Rand fest, während er sie endlich eine richtige Landfrau - ruckelnd und holpernd zum Fluß kutschierte. Hank suchte eine gesunde, ältere Scheinakazie aus, die in einer Baumgruppe am Ufer stand, und fällte sie mit seiner Kettensäge. Dann richtete er den Stamm zu und hievte ihn auf den Dungwagen, damit sie auf dem Rückweg Gesellschaft hatte. David sägte den Stamm zu einem kräftigen Kantholz zurecht, das als Pfosten dienen sollte. Mit Hanks Wahl war er sehr einverstanden. »Scheinakazienholz verfault praktisch nicht«, sagte er und rammte den Pfosten einen knappen Meter tief in die Erde. An der Spitze befestigte er einen seitlich abstehenden Arm mit zwei Haken, in die später das Schild eingehängt werden sollte. »Willst du außer deinem Namen noch etwas auf dem Schild? Willst du deinem Haus einen eigenen Namen geben?«
»Nein«, antwortete sie. Doch dann überlegte sie es sich anders und sagte: »Doch, schon.«
Das Schild gefiel ihr sehr, als es fertig war, im gleichen Hellbeige lackiert wie das Haus und mit schwarzer Beschriftung:
DAS HAUS AN DER GRENZE
DR R.J.COLE
Das Schild verwirrte die Leute. »An der Grenze zu was?« fragten sie R.J.
Je nach Laune gönnte sie sich den Spaß, den Fragenden zu erklären, das Haus stehe an der Grenze zur Zahlungsfähigkeit, an der Grenze zur Verzweiflung, an der Grenze zum Kollaps oder an der Grenze zur Lösung des kosmischen Lebensrätsels. Doch schon bald langweilte ihre Wunderlichkeit die Leute, oder sie hatten sich an das Schild gewöhnt, und die Fragen hörten auf.
Schnappschüsse
Wer ist der nächste?« fragte R.J. eines späten Nachmittags Toby Smith. »Ich«, sagte Toby nervös.
»Sie? Oh ... aber natürlich, Toby. Nur eine Routineuntersuchung oder ein
Weitere Kostenlose Bücher